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Von Unkraut und Palimpsesten 85
aber auch verführerischen Elementen macht den Selbstmord dennoch unabwend-
bar und verweist darauf, dass Geisteskrankheit nicht als individuelle Schwäche zu
verstehen ist, sondern als etwas, dem Adda nicht (selbstständig) zu entgehen ver-
mag, und zwar insofern, als dieses Etwas sowohl männlich (die großen Hände)
als auch weiblich (die Schlange) geprägt ist. Es reicht also nicht aus, sie als Opfer
der patriarchalisch-bürgerlichen Gesellschaft zu sehen. Sie selbst wird ja durchaus
auch als Mitglied dieser Gesellschaft dargestellt, sie kennt sich mit den Gesetzen
ihrer Gesellschaft bestens aus und will diese – oberflächlich – auf keinen Fall ver-
letzen. So kann sie ihren Zwängen, die von Konformität und Sühne, aber auch von
Versuchung geprägt sind, in doppelter Weise nicht entkommen. Wenn es aber kein
Entkommen gibt, dann ist die Botschaft an den Leser oder die Leserin eben nicht
nur, dass es da ein Genderproblem gibt, sondern dass die Gesellschaft nicht mehr
tragfähig ist, ja vielleicht sogar selbst geistesgestört.
3. sTabilisierung der erzählerin in der insTabiliTäT
Ein ständiges Spiel mit Entgrenzungsphantasien und Wahnsinnsanfällen finden
wir auch in Bertha von Suttners Die Waffen nieder!. Wir könnten die Autorin, oder
besser gesagt die Ich-Erzählerin, Martha, ohne Weiteres für eine Hysterikerin hal-
ten. Ebner-Eschenbachs Kommentar zu Die Waffen nieder!, der sich häufiger zitiert
findet, lässt sich in diesem Sinne lesen: »Ein Buch voll von ehrlicher Überzeugung
und Talent und oft wirklicher Beredsamkeit, und oft ganz dicht daneben kleine
Orgien der Geschmacklosigkeit und des schlechten Tons […].«33
Wir werden aber schon zu Beginn der Geschichte dessen gewahr, dass die Er-
zählerin mit Entgrenzung und Wahnsinn spielerisch-kritisch umgeht. Auf der ers-
ten Seite von Die Waffen nieder! lesen wir:
Mein Los schien mich [mit 17 Jahren – Anm. d. Verf.] nicht zu befriedigen, denn da steht’s
geschrieben:
»Oh, Jeanne d’Arc – du himmelsbegnadete Heldenjungfrau, könnt ich sein wie du! […]«
Zur Verwirklichung dieser bescheidenen Lebensansprüche bot sich mir keine Gelegenheit.
[… U]nd so hatte ich offenbar unter dem Bewußtsein zu leiden, daß die großen Taten, nach
welchen meine Seele dürstete, ewig ungeschehen bleiben müßten, daß mein Leben – im
Grunde genommen – ein verfehltes war. Ach, warum war ich nicht als Knabe zur Welt gekom-
men! (DWn, S. 5.)
Hier erklärt die Erzählerin ihre – inzwischen distanzierte und nicht unironische –
Haltung zu ihrem Material, das sie in ihren roten Tagebuchheften findet; sie hatte
diese Hefte etwa fünf bis sechs Jahre vor der in Die Waffen nieder! behandelten Zeit-
spanne zu führen begonnen. Zwischen den ersten geschilderten Ereignissen 1859
und dem Epilog am Schluss beziehungsweise Erscheinen des Werkes 1889 liegen
30 Jahre. Vier Kapitel (hier »Bücher« genannt) tragen die Jahreszahl eines wichti-
33 | Zit. n. Schmidt, Adalbert: Dichtung und Dichter Österreichs im 19. und 20. Jahrhun-
dert. Bd. 1. Salzburg/Stuttgart: Bergland-Buch 1964, S. 191 (ohne Quellenangaben). Das
Zitat wurde auch von Biedermann übernommen, vgl. Biedermann: Erzählen als Kriegskunst,
S. 133.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur