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Ruth
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gen Krieges (1859, 1864, 1866, 1870/71), zwei heißen »Friedenszeit« (jeweils nach
1859 und 1866); der Epilog legt die Bedeutung des Werkes noch einmal in einem
Rundumblick für die zeitgenössische Leserschaft explizit dar.34 Dem Buch liegt
also ihre persönliche Erinnerung zugrunde, und um dieser nachzuhelfen und sie
zu legitimieren, bezieht sich Martha immer wieder auf ihre Tagebuchhefte. Dies
geschieht von Anfang an, und somit ist es klar, dass sie weiß, dass der Leser oder
die Leserin weiß: Es handelt sich in Die Waffen nieder! um Erinnerungskonstrukte.
Diese waren, so erfährt man im Epilog, »schon schmerzlich genug zu schreiben«
(DWn, S. 395). Hier geht es aber nicht allein darum, dass das Tagebuchgenre für
Schriftstellerinnen angemessen schien und sie sich damit nicht sozial marginali-
sierten. Entgegen dem ersten Anschein sind die Erinnerungen in Die Waffen nie-
der! nämlich sorgfältig komponiert und um eine ausbalancierte Behandlung von
(zumindest für Frauen) Unaussprechlichem bemüht, sowohl was den Gegenstand
als auch was die Botschaft betrifft. Ich verstehe dabei die Erinnerungen an die
verschiedenen Kriege, die das Buch in Kapitel gliedern, als Manuskriptseiten, die
durch die Erinnerung an den jeweils folgenden Feldzug überschrieben werden,
und die Leseerfahrung ihres zeitgenössischen Publikums, für das diese Kriege
ja noch Gegenwart sind, als eine weitere Manuskriptseite, in die die Erzählerin
ihre Botschaft einschreiben will. Der transdifferente Prozess, von dem Kalscheuer
spricht,35 verläuft dabei diachron, von einem Krieg zum nächsten, aber auch syn-
chron, wenn die Erzählerin ihre Tagebucheinträge mit anderen Quellen und mit
der Sicht einer älteren Frau, die die Autorin zur Zeit der Abfassung des Romans
ist, verwebt und ihr Werk dann Lesern und Leserinnen präsentiert, die selbst eine
»Geschichte« mit diesen Kriegen haben. Es wären hier auch die Streitgespräche,
Monologe und Dialoge in Betracht zu ziehen, die den Kriegsausbrüchen voraus-
gehen, diese begleiten und ihnen folgen. Auf diese kann ich hier nicht weiter ein-
gehen, aber sie könnten ebenfalls als Teil der transdifferenten Prozesse untersucht
werden. Biedermann weist darauf hin, dass Suttners Erzählstrategie »den Leser
zu Empathie, zu Wohlwollen, zu Zustimmung und letztendlich zur Gefolgschaft
gewinnen [soll]«.36 Das kann allerdings nur dann gelingen, wenn diejenige, wel-
che die Erinnerung vermittelt, zu jedem Zeitpunkt ihre Autorität aufrechterhalten
kann.
Auf den ersten Blick erscheint es deshalb problematisch, dass Martha in jedem
Krieg mindestens einen Zusammenbruch erleidet, durch den sie körperlich zwi-
schen Leben und Tod schwebt und Phasen des Wahnsinns durchmacht; anschlie-
ßend sind ihre pazifistischen Vorstellungen jeweils weiterentwickelt und – für ihre
Zeit – radikaler. Die Zusammenbrüche und Wahnsinnsanfälle, bei denen die Frau
praktisch ihr bisheriges Selbst verliert, sollten aber nicht als weibliche Schwäche
verstanden und kritisiert werden, sondern die Verknotungen zwischen dem Lei-
den der Frau und jenem der Männer im Krieg konnotieren und darauf hindeuten,
dass Kriegstreiberei für Männer und Frauen gleichermaßen, also für die gesamte
Gesellschaft, ein Wahnsinn ist und beendet werden muss. Außerdem können wir
diese Zusammenbrüche aber auch so verstehen, dass die Art und Weise, wie die
Erzählerin über den Krieg schreibt, so revolutionär ist, dass ihre Geschichte nicht,
34 | Vgl. Biedermann, Erzählen als Kriegskunst, S. 163.
35 | Vgl. Kalscheuer: Encounters in the Third Space, S. 186.
36 | Biedermeier: Erzählen als Kriegskunst, S. 172.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur