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Von Unkraut und Palimpsesten 87
oder jedenfalls nicht durchgehend, bei vollem Bewusstsein erlebt werden kann.
Neben anderen Gefahren, die das Schreiben über ein angeblich so männliches Su-
jet wie den Krieg birgt, erlebt Martha auch schon im ersten Krieg, in dem sie sofort
Witwe wird, was es bedeutet, wenn man seinen Schmerz nicht gesellschaftskon-
form ausdrückt: Ihre ältere Freundin, Frau Ullsmann, hat den Verlust ihres Sohnes
auf dem Kriegsfeld nicht verkraftet, und Martha bemerkt, dass sie zu einem Kon-
dolenzbesuch bei ihr zu spät kommt; Frau Ullsmann war drei Tage vorher »in die
Irrenanstalt überführt worden« (DWn, S. 32).
Dies ist das Grundkonstrukt, an das auf die eine oder andere Weise immer
wieder erinnert wird. Wie die Erzählerin nun an ihrer Autorität arbeitet und selbst
(wenn bestimmt auch nur knapp) dem Irrenhaus entgeht, soll anhand von drei
Textpassagen erläutert werden.
Warum es sinnvoll war, kein Junge zu sein, stellt sich für Martha sehr schnell
heraus: Die Siebzehnjährige verliebt sich ungefähr ein Jahr vor Ausbruch des Krie-
ges gegen Frankreich und Sardinien (1859) unsterblich in den Soldaten Graf Arno
Dotzky. Das Paar heiratet ein Jahr später, und sie bekommen einen Sohn (vgl. DWn,
S. 10-13). Dieser soll wie sein Vater und jeder gute Österreicher Soldat werden. Als
davon die Rede ist, dass ein Krieg bevorsteht, meint Martha zu ihrem Mann: »Dürf-
te ich nur mit – an deiner Seite fechten, fallen oder siegen!« (DWn, S. 15). Der von
ihr angebetete Dotzky verweist sie zwar liebevoll, aber bestimmt in ihre Schran-
ken: Sie gehöre an die »Wiege des Kleinen, in dem auch ein Vaterlandsverteidiger
großgezogen werden soll« (ebd.). Das Geschlechterverständnis ist damit zunächst
geklärt: Frauen dürfen zwar Träume haben, aber diese werden schnellstens von der
Wirklichkeit aufgelöst, die ihnen die Rolle der Mutter und Ehefrau zuweist. Martha
erfüllt diese Rolle auch und bleibt zunächst zu Hause. Zwar hat sie von Anfang an
Angst um ihren Mann. Aber gesellschaftskonform, wie sie zu diesem Zeitpunkt
ist, beherrscht sie sich immer wieder und statt ihren Mann mit ihrer Furcht um
ihn zu belasten, hält sie sich selbst vor, dass sie als Leutnantsfrau auch Soldaten-
pflichten hat, und zu denen gehört es, ihrem Mann Mut zuzusprechen und seinen
Tatendurst zu steigern (vgl. DWn, S.
17). Durch die Entgrenzungsphantasie am An-
fang und ihre nur wenige Seiten später geschilderte vernünftige, von einem als
edel beschriebenen, attraktiven, jungen Mann verlangte Einsicht nimmt Martha
potenzielle Leserkritik vorweg und etabliert eine gewisse Autorität. Sie ist eine fä-
hige österreichische Leutnantsfrau und als solche genießt sie Ansehen. Dem tun
auch ihre Tränen keinen Abbruch, als sie von dem Stellungsbefehl ihres Mannes
hört, und dass sie in Ohnmacht fällt, als sie die Nachricht vom Tod Arnos erhält,
sollte man als genderkonformes Verhalten bewerten. Sie ist schließlich noch jung.
Gegenüber ihrer stoischen Tante und ihrem lieben, aber störrischen Vater kommt
sie uns attraktiv und sensibel, keineswegs aber hysterisch vor. Ihre Autorität wird
durch ihr Witwentum eher bestärkt; sie hat vier Jahre Zeit zu trauern, sich loszulö-
sen, ihren Lebensmut wiederzufinden, und all das heißt, normal zu sein (vgl. DWn,
S. 44). Es herrscht Frieden, es gibt keinen Anlass zu agitieren, und die Erzählerin
schreibt ihrem jüngeren Ich selbst zu, in diesen Jahren gereift zu sein.
Nach einer als angemessen beschriebenen Trauerzeit heiratet Martha Baron
von Tilling. Dieser ist wie Dotzky Soldat und ein guter Ehemann, aber anders als
dieser seelenverwandt mit ihr, besonders was ihren Pazifismus betrifft. Letzteres
hatte in ihrer Ehe mit Dotzky keine Rolle gespielt, doch in ihrer Witwenzeit ist Mar-
tha zu der Erkenntnis gelangt, dass wahre Liebe für sie auch »Herz in Herz, Geist
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur