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Ruth
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zuvertrauen. (Das ist also eine indirekte Aufforderung an die Leserschaft, es ihr
gleichzutun.) Die Ärzte sind außerdem auch selbst von Gefühlen erfasst worden,
die man zu dieser Zeit von Frauen und nicht von Männern erwartete: Ihre eigene
moralische Kraft ist am Ende, und sie können die volle »Wahrheit« nicht begreifen,
weil diese zu überwältigend ist.37
In einer späteren Szene, die das Jahr 1866 abschließt und am Allerseelentag
spielt, gelangt Martha zu einem weiteren Beweis dafür, dass sogar ein Mann mit
allerhöchster Autorität seine Gefühle angesichts des Kriegsgemetzels nicht für sich
behalten kann: Sie und ihr Mann besuchen das Totenfeld von Sadowa in der Nähe
von Königgrätz und sehen dabei Kaiser Franz Joseph weinen (vgl. DWn, S. 308f).
Die Erzählerin vermittelt der Leserschaft dabei, dass sie genaue Einsicht in die
kaiserlichen Gefühle hat. Nicht nur ist dem Regenten klar, dass er die jungen Sol-
daten, die dort begraben liegen, durch seinen Kriegsbefehl geopfert hat, sondern
auch, dass er auf seine Frau Elisabeth hätte hören sollen, die ihm vom Krieg abgera-
ten hatte (vgl. DWn, S.
309). Wir hören kein Wort aus dem Munde des Kaisers, die-
ses wird einzig und allein durch Martha vermittelt, die sich damit sein Denken und
Fühlen aneignet und es ihrer Leserschaft so mitteilt, als hätte er sie ausgesprochen.
Sie gewinnt so in doppeltem Sinne Autorität, nämlich durch ihre Zeugenschaft wie
auch durch ihre (scheinbare) auktoriale Einsicht.
Wenn aber selbst Männer angesichts dessen, was sie auf dem Kriegsschau-
platz sehen, mit heftigen Gefühlen reagieren und sogar eine Kaiserin gegen diesen
Krieg eingestellt ist, dann gewinnen Marthas Ohnmachten eine gewisse Logik,
auch wenn es etwas egoistisch anmutet, dass sie den Hausarzt tagelang für sich
beansprucht, obwohl die Verwundeten ihn sicher dringender brauchen würden.
Die Art und Weise, wie Martha in ihrer Erzählung Erinnerungen aus unterschied-
lichen Quellen verwoben hat, unterstreicht ihre Botschaft, dass nämlich Frauen
wie auch Männer den Krieg ablehnen müssen, weil keines der beiden Geschlechter
ihm gewachsen ist. Martha entgeht damit sowohl der Kritik, sich nur erwartungs-
konform zu verhalten, wie auch jener, in Sachen Kriegsberichterstattung oder poli-
tischer Meinung nicht mitreden zu können.
Etwas problematisch ist hier, dass Frau Simon und ein paar Nonnen, die aller-
dings nur kurz erwähnt werden, durcharbeiten statt schlappmachen. Frau Simon,
von den Soldaten als »Lazarettmutter« bezeichnet, wird von der Erzählerin »Hel-
din« genannt (DWn, S. 258). Sie scheint die einzige Person zu sein, die die ganze
Zeit durchhält und dafür von allen bewundert wird. Sie steht damit im krassen
Gegensatz zu Martha, was diese auch nicht verschweigt: »Zu helfen war ich nicht
imstande gewesen […], wie die tapfere Frau Simon es getan […].« (DWn, S. 263)
Aber wir erfahren, dass Marthas Bereich, wo sie tapfer und stark sein kann, eben
woanders liegt: Frau Simon war als Lazarettschwester barmherzig, Martha aber
wollte barmherzig sein, indem sie das krasse Leiden und Sterben von Königgrätz
»nicht vergessen« (ebd.), sondern ihr Mitgefühl auf dem Papier ausdrücken wollte,
um damit denen, die zu Hause geblieben waren, Anteilnahme zu ermöglichen und
eine Wiederholung zu verhindern. Denn für diese Aufgabe war Frau Simon – so
müssen wir der Schilderung entnehmen – zu beschäftigt.
37 | Vgl. Möbius, Paul J.: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes [1900]. Halle:
Marhold 31903, S. 23, 25; Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Unter-
suchung [1903]. Hg. v. Hans Babendreyer. Wien/Leipzig: Braumüller 201919, z.B. S. 244f.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur