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»Emma« alias »Emanuel« 99
ten nur noch Frauen, Kinder, alte oder behinderte Männer und Tiere übrig geblie-
ben sind. Mit dieser symbolischen Zurschaustellung der Schwäche kontrastieren
nun die Ereignisse, in deren Folge diese männerlose Gemeinschaft dem Feind, der
zaristischen Armee, Widerstand leistet und der Niederlage mit Selbstaufopferung
und Inbrandsetzung der Stadt begegnet. Bedeutsam sind für unseren Zusammen-
hang die vorangegangenen Ereignisse und deren Hauptfigur, das »Széklyer Weib«,
Judith:
Am Graben des Gottesackers, gelehnt an eine Akazie, steht ein hohes Weib.
Sie mag sechsunddreißig Jahre alt sein. Ihre Züge sind hart, streng, aber auch jetzt noch
schön.
An der einen Seite des Himmels flammt die sinkende Sonne, an der andern blitzt das Unge-
witter. Das Antlitz des Széklyer-Weibes malt auf der einen Seite der Sonne Abschiedsstrahl
bleibend-golden; auf die andere Seite wirft der Blitz ein schnell vergängliches blaugrünes
Licht. […]
Sie hält ihre Hand vor’s Auge und blickt ununterbrochen in die Ferne, ihre Gestalt ist regungs-
los, als wäre sie aus Stein gehauen.
Das ist Judith, ein Urtypus des Széklyer-Weibes. Sie ist eine jener nie verwelkenden Gestal-
ten, die den Ausdruck ihrer Züge […] bis ins späte Alter behalten, deren Seele ebenfalls nicht
altert, sondern mit den Jahren an Kraft gewinnt.5
Diese Gestalt verordnet vor dem Kampf mit der zaristischen Armee die Vertrei-
bung jener Székler Männer, die aus der kurz zuvor verlorenen Schlacht in ihre Hei-
matstadt zurückkehren wollen: »Warum wolltest Du Dein Vaterland überleben?«,
richtet Judith das Wort an den ersten heimkehrenden, tödlich verletzten Jüngling,
ihren eigenen Sohn:
Hebe Dich fort von hier! dieser Friedhof hat keine Stätte für Dich. An unserem Sterben sollst
Du nicht Theil nehmen. […]
Der Jüngling ließ seinen flehenden Blick über das Antlitz der Frauen hinstreifen, – nirgends
Theilnahme, nirgends ein Zug des Mitleids. […]
Es kamen dann auch andere Széklyer-Jünglinge aus der verlorenen Schlacht heim. Und vom
ersten bis zum letzten wurden sie von den Széklyer-Weibern weg – hinausgejagt. (S. 237-238)
Der hier offenkundig werdende Heroismus des Nationalkampfes wird ergänzt und
auch überschrieben durch das Porträt von Frauen, die sich am Freiheitskampf be-
teiligen, indem sie zugleich ihren sozialen Rollen (als Mutter, als Braut, als Frau)
entsagen. Das Geschlecht der ›Schwachen‹ steht symbolisch für die Stärke des
nationalen Willens zur Selbstständigkeit, wobei dieser Wille auch durch bibli-
sche Komponenten minoritärer Identität unterstützt wird: Der Kampf zwischen
der Nation und dem Feind – die Gegenüberstellung des Eigenen und des Frem-
den – wird nämlich auch in Bezug auf das biblische Israel ausgelegt – heraufbe-
zählungen]. Bd. 2/A: (1850). Hg. v. Miklós Győrffy. Budapest: Akadémiai 1989, S. 150 be-
ziehungsweise S. 598 (Kommentarteil).
5 | Sajo [Mór Jókai]: Das Széklyer Weib. In: ders. Schlachtenbilder und Scenen aus Ungarns
Revolution 1848 und 1849. O.Ü. Pesth: Heckenast; Leipzig: Wigand [1850], S. 229-262, hier
S. 233-234; wiederholte Zitationen in Klammern im Haupttext.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur