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Endre
Hárs104
gus ihr Kind mütterlich, und in der oben zitierten Szene verleiht er ihr die Stimme
(nebenbei gerade so, wie es sich die Männer gern vorstellen).16 Und so kann der
als Geistlicher verkleidete Pélargus Juliánna das Geleit zum Schafott geben und
ihr – als ihr Gewissen, als ihr zweites Ich – die Selbstkontrolle sichern; damit sie
werde, als was er selbst sie lieben mochte: eine makellose Heldin. Für vorliegenden
Zusammenhang ist damit jedenfalls ein weiteres Beispiel dafür gewonnen, wie Jó-
kai – und sei es auch nur episodisch – Differenzen mitkonstituiert und wieder
unterläuft, welche Geschlecht sukzessive als Erzählgegenstand – und zwar über die
Handlungsrelevanz hinaus – ausbauen helfen. Eine Tendenz, die in den erotischen
Herrinnen des Spätwerks Jókais viel deutlicher und zentraler, aber auch viel tradi-
tioneller hervortreten sollte.17
3. heldinnen der differenz
Statt der zuletzt Genannten soll deshalb drittens und zuletzt von Frauenfiguren Jó-
kais die Rede sein, die – nach wie vor im Austausch mit den auf sie gerichteten
männlichen Phantasien – zu ›Heldinnen der Differenz‹ werden. Die hier zu nennen-
den Figuren vollziehen einen – meist erzwungenen – Wechsel zwischen Ländern
und Kulturen, dieses Merkmal wird aber immer in Verbindung mit anderweitigen,
so auch mit Genderfragen bedeutsam. Andersrum formuliert: Der Erzählinstanz
kommt es in allen Fällen auf die Disposition der Figur generell und nur als Kompo-
nente auf deren – oft außerhalb des konkreten Romangeschehens verortete – aben-
teuerliche Herkunft selbst an. Dabei soll mit zwei Frauengestalten begonnen werden,
in deren Fall der Wechsel von Land und Existenz zwar thematisiert, jedoch nicht
zum Problem und zentralen Handlungsfaktor wird: Operettenhaft beziehungswei-
se romantisch-abenteuerlich halten beide Figuren die Verwandlung konsequenzlos
durch. Anschließend (und ausführlicher) folgen zwei weitere Frauengestalten, in
deren Fall die Zugehörigkeit zur Gesellschaft, zum Land und zum Ehemann als
Problem artikuliert wird und entsprechend an Raum und Tiefe gewinnt.
Die erste Heldin, deren existenzieller ›Spieleinsatz‹ nicht weiter problematisiert
wird, ist Elis im »humoristischen« Roman Der neue Gutsherr (1871; Az új földesúr,
1862), Tochter des ehemaligen österreichischen Kriegsherrn und Funktionärs
Ritter Ankerschmidt, der zur »Zeit der Bach-Hußaren«18 (d.h. in den Jahren der
16 | In der genannten Szene löst Juliánna jedenfalls nicht nur Männeraufgaben. Sie wird
auch als Ehebrecherin wahrgenommen und als solche von ihrem Mann gedemütigt.
17 | In Mein, Dein, Sein (1875; Enyim, tied, övé, 1875) und Ein bejahrter Mann ist kein alter
Mann (1900; Öreg ember nem vénember, 1900) kommen z.B. erotische Zahlenverhältnisse
und (erzählerisch sublimierte) sadomasochistische Beziehungen zum Vorschein: Eine (meis-
tens ältere, oft autobiografisch unterfütterte) männliche Figur wird von Frauengestalten als
Wunschobjekten umgeben, verzärtelt und gedemütigt. Über Jókais späte Erotik und deren
Verwurzelung in der Literatur des Fin de Siècle vgl. Gángó, Gábor: A kettős kulcs a »Négy tán-
cosnő«-házhoz. Jókai és a bécsi századvég kultúrája [Doppelschlüssel zum Haus »Zu den vier
Tänzerinnen«. Jókai und die Kultur des Wiener Fin de Siècle]. In: Holmi 4 (2002), S. 430-447.
18 | Jókai, Maurus: Der neue Gutsherr. Humoristischer Roman in zwei Bänden, aus der Zeit
der Bach-Hußaren in Ungarn 1849–1859. O.Ü. 2 Bde. Dresden: Wallersteinsche Buchhand-
lung 1876.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur