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»Emma« alias »Emanuel« 109
ge Statue der Timea nicht mehr nur als Nebenfigur auf dem Weg der Hauptfigur
zu dessen Glück betrachtet wird, entfaltet sie ihre volle Wirksamkeit als Gegenent-
wurf zur Glücksteleologie der Geschichte. Beachtet man die utopische Dimension
von Timars und Noëmis Inselglück und den hohen Anteil von Abschnitten des
Romans, in denen Timars depressive Zustände geschildert werden, so ist und bleibt
Timea die Subversion des Happy Ends: eine selbst in ihrem epilogisch verdrängten
Unglück und Tod bedrückend wirkmächtige Alternative zum glücklichen Mann
und zur beglückten Frau.
Jókais Heldin der Differenz par excellence ist aber nicht Timea, sondern Erzsi-
ke aus Die Dame mit den Meeraugen (1890; A tengerszemű hölgy, 1890), aus einem
Werk, das schon von der Gattung her vielschichtig ist, handelt es sich doch um
einen autobiografischen Roman, dessen Ich-Erzähler Jókai selbst ist, der sich un-
geachtet dessen (oder gerade deshalb) ein lässiges Fiktionalisieren erlaubt – mit
dem entsprechenden erzählerischen Anspruch auf parallelverlaufende oszillieren-
de Rezeption. Die Hauptfigur des Romans ist eine Frauengestalt, die im Leben
des Erzählers immer wieder auftaucht, es mit ihrem eigenen Schicksal schatten-
haft begleitet und die Berechtigung hierzu gewissermaßen aus ihrem nie ganz
offen ausgesprochenen und auch nie in Erfüllung gehenden Angebot bezieht, die
Frau seines Lebens zu werden. Erzsikes besonderer Charakter und Lebensweg wer-
den von Jókai durch eine Zentralmetapher vorbereitet und ständig kommentiert
– durch das Bild des Meerauges:
Niemals habe ich solche Wunderaugen gesehen. […] Die Augen jener Frau […] waren so man-
nigfach wie der Wechsel in ihrer Gefühlswelt. […]
Von welcher Beschaffenheit ist denn das Meerauge? Von der Bergkuppe gesehen, ist es
hellgrün […]. Ein andermal, wenn eine Brise seine Fläche kräuselt, wird es tiefgrün, dann
braun, dann schwarz: es wirft die Farbe der Wolken zurück, Blitze scheinen aus ihm empor-
zuschießen. […] Wenn wir ganz hinabsteigen, und auf einem roh zusammengefügten Floße
hineinrudern, dann finden wir das Meerauge weder blau noch grün, sondern krystallrein und
durchsichtig. […] Der Grund des Wassers ist ein Blumengarten, aber ein Garten ohne leben-
den Bewohner; kein Fisch, kein Reptil hauset hier. Aber doch einen Bewohner hat der Garten
am Wassergrunde: die Sirene. Nicht die mythische Zaubergestalt, sondern ein fratzenhaftes
Ungeheuer mit großem schwarzen Kopf, roten Kiemen, zwei Froschfüßen und plumpem, trä-
gem Fischschwanze. […] Ich hatte einigemale Gelegenheit, dies fabelhafte Amphibium zu
sehen….22
Die Beurteilung dessen, ob dieses »Amphibium« im Charakter oder im Schicksal
der Frau erblickt wird, verändert sich im Laufe des Romans im Hinblick auf Letzte-
res, und zwar ungeachtet dessen, dass »deine verdammten, die Farbe wechselnden
Augen« (S. 166) mitunter das ganze Spektrum des Farbenrades durchlaufen. An
Erzsike geht nämlich ihre eigene Prophezeiung in Erfüllung, der zufolge sie ihr
Glück, nämlich ihr Eheglück, »in der Hütte eines Hirten, in dem Leinwandzelte eines
fahrenden Komödianten, am Biwakfeuer eines Soldaten, [und] in der ärmlichen Lehm-
22 | Jókai, Maurus: Die Dame mit den Meeraugen. Roman in drei Bänden. Übers. v. Oskar
von Krücken. Leipzig: Reclam o.J., Bd. I, S. 9-10; die Übersetzung wurde leicht geändert: In
der deutschen Fassung steht statt ›Reptil‹ (im ungarischen Original »hüllő«) »Amphibium«,
welcher Begriff einige Zeilen später in symbolischer Bedeutung wieder auftaucht.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur