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Endre
Hárs110
hütte eines Dorfschullehrers« (S. 39, Hervorhebungen i.O.) finden würde. Erzsikes
Schicksal ist tatsächlich das Wandern von Ehe zu Ehe, zugleich ein sozialer Abstieg
und ein radikaler Wechsel der dazugehörigen Lebensprojekte und Selbstbilder.23
Das Romangeschehen verfolgt dies, indem Erzsike in bestimmten Lebensepisoden
Jókais – die mit erzählt werden – immer wieder auftaucht, über ihre Schicksale
berichtet und ihn – als den Mann, der nie ihr Mann wurde – als Ratgeber, als Trau-
zeugen, gar als »gesetzliche[n] Vormund« (S. 237) oder Beichtvater in ihre Ehe-
kontexte mit einbezieht. Innerhalb dieser Lebensgeschichte erstreckt sich übrigens
auch eine längere Binnenerzählung, die für Jókai charakteristische Wiedererzäh-
lung der Jahre 1848–1849, diesmal als Geschichte Erzsikes während der Revolu-
tion, die nicht weniger abenteuerlich und – den Wechsel von Geschlechterrollen
mit eingerechnet – identitätsstrategisch noch wendiger verläuft als ihr gesamtes
Leben selbst. Zur Rettung ihres Ehemannes, der vor den kaiserlichen Soldaten ver-
steckt werden soll, greift sie z.B. selbst zur Mimikry:
»Sodann ging ich daran, meine eigene Figur umzuwandeln. Ich mußte die Maske des Vorgei-
gers einer Zigeunermusikkapelle annehmen. Wenn Sie damals mein Porträt gemalt hätten!
Damals war ich schön. Ich bestrich mein Gesicht mit dem Safte grüner Nußschalen und da-
von nahm meine Haut eine so tiefbraune Färbung an, daß ich mich getrost unter die Zigeuner
mengen konnte […]. Mein Haar schnitt ich ab, daß es mir nur bis zu den Schultern reichte.«
(S. 178)
»Ich kann sagen, daß ich im Heerlager des Banus völlig verhätschelt wurde […]. Trotz meiner
schwarzen Fratze und meines ausgiebigen Knoblauchduftes umarmten und küßten mich die
Herren Offiziere.«
Indem sie die letzteren Worte sprach, legte sie beide Hände vor die errötenden Wangen.
»Jene Küsse zählen nicht, Sie waren ja damals ein Mann.« (S. 181f.)
Die im vorliegenden Zusammenhang relevante Tiefendimension von Erzsikes so-
zialhistorischer »Ehemigrationsgeschichte« hat die Literaturkritik hervorgekehrt,
indem sie Jókai vorhielt, eine inkonsequente Figur und eine unglaubwürdige Ge-
schichte vorgelegt zu haben. Dass jemandes Auge »in welcher Aufregung auch
immer, jetzt blau, darauf schwarz, dann gelb und grün werde«, schreibt der im-
mer kritische Pál Gyulai, einer der wortführenden Literaturkritiker der Zeit, »kann
man schwer nachvollziehen«. Und er meint weiter:
Nehmen wir aber an dieser Übertreibung keinen Anstoß. Schlimmer ist es, dass die Heldin
nicht nur Meeraugen, sondern auch eine Meeraugen-Seele hat, die sich so oft, und auf eine
23 | Ihre erste Ehe bricht sie ab, indem sie in einem Rollenwechsel zum »Weib des Gyuricza
Peter« (S. 78), eines Rinderhirten, wird, mit dessen Frau ihr adliger Ehemann – seine ›herr-
schaftlichen Rechte‹ wahrnehmend – sie betrügt. Dem Erzähler sagt sie: »›Bedauern Sie mich
nicht! Ich bin vollkommen glücklich. Nicht mich hat der Gyuricza Peter mit der Reitpeitsche
durchgeprügelt [sondern seine untreue Frau E.H.]. Jetzt bin ich die Hausfrau auf dem Hofe
des Gulyas.‹ Und sie sagte dies mit nicht geringem Stolze. Dann begann sie mit wahrhafter
Schwärmerei von ihrem neuen Ideal [dem Leben als Bauernfrau – E.H.] zu erzählen.« (S. 92).
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur