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Ernst
Seibert138
zig erschienen), auf den die hier entwickelte Entfremdungsthese jedoch ebenfalls
und in besonderer Weise zutrifft.
Es scheint jedenfalls kein Zufall zu sein, dass die vor 1918, also noch in der
Monarchie verfassten Werke, die bis in die Gegenwart als Klassiker der österrei-
chischen Kinderromane gelten (beziehungsweise lange galten) und zumindest bis
in die frühen Jahre der Zweiten Republik auch von Kindern gelesen wurden, bis
zurück zu dem im heutigen Tschechien geborenen Ahnherren einer Kinderlitera-
tur mit literarischem Anspruch, Adalbert Stifter (1805–1868), von Literaturschaf-
fenden geschrieben wurden, die herkunftsbedingt mehr oder minder deutlich in
den Habsburgischen Kronländern sozialisiert wurden. Das gilt für den in Prag ge-
borenen Charles Sealsfield ebenso wie für die in Mähren aufgewachsene Marie
von Ebner-Eschenbach, für den in Budapest geborenen Felix Salten wie für Alois
Tlučhoř, besser bekannt unter dem Namen A. Th. Sonnleitner aus Böhmen, für
den als Sohn eines sudetendeutschen k.u.k.-Marinetechnikers in Kroatien aufge-
wachsenen Franz Karl Ginzkey wie für den aus Budapest stammenden Franz Mol-
nar. Mit Rücksicht darauf, dass die rückverfolgten Lebenswege der als Klassiker
in Frage kommenden Autorinnen und Autoren generell in die ehemaligen Kron-
länder führen, ist von einer peripheren Genese der österreichischen Kinder- und
Jugendliteratur zu sprechen.
Im Hintergrund der Entstehung dieses eigenen literarischen Feldes steht eine
Entwicklung, auf die William M. Johnston in seiner Österreichischen Kultur- und
Geistesgeschichte hinweist, dass nämlich Adalbert Stifter das Erbe des Reformka-
tholizismus und insbesondere die Ethik Bernhard Bolzanos (1781–1848) in seinen
Werken reflektiert; dabei ist daran zu erinnern, dass Bolzano zu den Begründern
des Bohemismus gehörte, sich also zu einer die tschechisch-deutsche Zusammen-
arbeit im Sinne eines nationalen Ausgleiches unterstützenden Denkweise bekann-
te, weswegen er – durch allerhöchste kaiserliche Entscheidung – letztendlich sein
Lehramt verlor und zwischen 1820 und 1830 unter Polizeiaufsicht gestellt wurde.16
Vielleicht ist eben diese, jenseits der KJ-Literaturgeschichte liegende biografische
Episode ein Symbol für die etwas rätselhafte Verborgenheit der historischen Wur-
zeln in der Entstehung österreichischer Kinder- und Jugendliteratur im frühen 20.
Jahrhundert. Die Werke ihrer Autorinnen und Autoren, teilweise noch in den Jahr-
zehnten vor dem Fin de Siècle entstanden, haben mehrheitlich sehr wohl in die
österreichische Literaturgeschichte Eingang gefunden, wenngleich man sie aber
dabei mit dem Genre der KJ-Literatur nicht identifiziert, obwohl sie es sehr weg-
weisend begleitet haben. In postkolonialer Perspektive handelt es sich dabei auch
um frühe Formen einer Migrationsliteratur, als die diese kindheits- und jugend-
adressierten Werke heute zu lesen sind.
In den folgenden Kurzdarstellungen soll in Form eines kollektivbiografischen
Ansatzes diesem Theorem einer peripheren Genese der KJ-Literatur in Österreich
nachgegangen werden, wobei deutlich wird, dass die sehr ähnlichen Schreibanläs-
se jeweils im Migrationshintergrund der Autorinnen und Autoren beziehungswei-
se im Spannungsfeld zwischen erlebter eigener Kindheit in den Herkunftsländern
und nun im Zentrum der Monarchie beziehungsweise nach 1918 in der neu er-
standenen Republik wahrgenommener Kindheit gelegen sind. Diese spezifischen
16 | Vgl. Johnston, William M.: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft
und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938. Wien: Böhlau 1972, S. 279-285.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur