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Ernst
Seibert140
vollzieht sich zunächst im Werk der Marie von Ebner-Eschenbach, in Zdislavice/
Zdislawitz in Mähren als Tochter eines Freiheitskämpfers18 mit entsprechender
Sensibilität für Nationalitätenkonflikte aufgewachsen – einer Prädisposition, die
als Hintergrund für ihre Kindergeschichten mit zu bedenken sind. Ähnlich wie
Stifter mit seinen explizit kindheitsadressierten Bunten Steinen gab sie eine Samm-
lung von Geschichten heraus, die sie als jugendliche Lektüre ausgewählt hatte. Sie
erschien mit dem Titel Ein Buch für die Jugend (1907), und vereint die Geschichten
Der Fink, Die Spitzin, Der Muff und Krambambuli.19 In dem 20 Zeilen umfassenden
Geleitwort gibt die Verfasserin vor, von Müttern nach der Herausgabe eines sol-
chen Buches gebeten worden zu sein und richtet sich sehr gezielt und persönlich
an ihre Leserschaft:
[…] meine Kleinen am Inn und meine geliebten Großnichten und Großneffen bei uns daheim
und im Schwabenlande und Ihr drei deutschen Knäblein in Rom, und Du, lieber Gerhard in
Westfalen, mir fremd und doch so wohlbekannt, und Du, Harald, mein teurer und getreuer
Korrespondent in Livland, für Euch habe ich, im Einverständnis mit meinen Herren Verlegern,
eine Lese in meinen Schriften gehalten und dieses Büchlein zusammengestellt.20
Die Kindheitsadressierung, die bei Ebner-Eschenbach spätestens 1907 unmittelbar
erkennbar wird, hat sich jedoch schon früher abgezeichnet. Vor allem ihr Roman
Das Gemeindekind (1887) ist als Weiterentwicklung der von Stifter begonnenen
Kindheitsthematik zu sehen, in dem, weniger verschlüsselt, als in den Tiererzäh-
lungen, die soziale Ungerechtigkeit gegenüber Kindern dargestellt wird. Wenn
man den Roman, der zu Lebzeiten der Dichterin 16 Einzelauflagen erreichte,21 etwa
vergleichend mit Charles Dickens’ Oliver Twist interpretiert, wird die eigentliche,
geradezu sozialrevolutionäre Innovation dieses Werkes erst deutlich; und wenn die-
se andere Sichtweise auf die Autorin einmal Platz gegriffen hat, wird etwa erkenn-
bar, dass von diesem Werk an in ihren Erzählungen, nicht zuletzt im Genre der
Autobiografie, fast immer auch das Kind oder der Jugendliche als impliziter Leser
oder implizite Leserin präsent ist. Darüber hinaus ist Marie von Ebner-Eschenbach
18 | Ebner-Eschenbachs Vater, Franz Dubsky, kämpfte in der Völkerschlacht von Leipzig,
war aber nichtsdestoweniger frankophil gesinnt. Vgl. Strigl, Daniela: Berühmt sein ist nichts.
Marie von Ebner-Eschenbach. Eine Biographie. Salzburg/Wien: Residenz 2016, S. 32.
19 | Bemerkenswert ist, dass fünf Jahre zuvor unter gleichem Titel eine Erzählsammlung von
Emma Adler, der Frau des Sozialdemokraten Victor Adler, mit Beiträgen von Autoren aus dem
sozialistischen und sozialdemokratischen Umfeld in Wien erschienen war: Adler, Emma: Fei-
erabend. Ein Buch für die Jugend. Wien: Ignaz Brand 1902. Ebner-Eschenbachs Verhältnis
zur Sozialdemokratie ist differenziert zu sehen. In der Biografie von Strigl heißt es, sie »stand
bei den Führern der Sozialdemokratie in hohem Ansehen«, aber auch: »mit dem Sozialismus
wollte sie nichts zu tun haben« (ebd., S. 14). Etwas konkreter wird später darauf eingegan-
gen, dass Victor Adler sich sehr um sie bemühte, insbesondere über einen Abdruck ihres
Romans Das Gemeindekind in der Arbeiter-Zeitung (ebd., S. 293f u. 357). Dass ihre explizit
der Jugend gewidmete Erzählsammlung – jedenfalls dem Titel nach – Emma Adler geschuldet
ist, ist in diesem Zusammenhang eine naheliegende Vermutung.
20 | Ebner-Eschenbach, Marie von: Ein Buch für die Jugend. Aus meinen Schriften. Berlin:
Gebrüder Paetel 1907, S. [6].
21 | Strigl: Berühmt sein ist nichts, S. 293.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur