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Ein Migrant par excellence 185
sein Ansuchen um die Stelle eines Privatdozenten an der Lemberger Universität.
Fragestellungen solcher Art beruhen auf der Entweder-oder-Denkweise und speku-
lieren an Ivan Franko, wie ihn sein Werk und Tun präsentieren, vorbei.
Ivan Franko war ein Migrant zwischen Sprachen und Kulturen, Gattungen,
Epochen und Stilen, zwischen Literatur, Wissenschaft und Politik, ein vehementer
Atheist unter den Gläubigen, ein Sozialdemokrat in der Zeit des Raubkapitalismus,
ein Kritiker, der in der Vision des Staates von Friedrich Engels das Totalitäre er-
kannte, lange bevor es Realität wurde. Frankos literarische Texte sind offene Struk-
turen, die souverän an die außerhalb des Ukrainischen liegenden Kulturcodes ap-
pellieren. Er baut in seine Texte Zitate und Vokabeln aus den anderen Sprachen ein,
was die Vielsprachigkeit Galiziens natürlich nachzeichnet, abgesehen von zahlrei-
chen Germanismen, Polonismen und Jiddizismen, die ein fester Bestandteil der
ukrainischen Sprache in Galizien waren, ja ihr lokales Kolorit, ihre Besonderheit,
d.h. ihre Identität, ausmachten, eine Identität, die auf das Inkorporieren bedacht
war und erst durch dieses überhaupt definiert werden konnte.
Seine Offenheit gegenüber den Anderen verankert Ivan Franko in einem Kind-
heitserlebnis, das er im Text Meine jüdischen Bekannten darlegt.30 Diese Erinnerun-
gen sind auf Bitte des Herausgebers der 1903 geplanten, aber erst ab 1916 erschie-
nenen Berliner Wochenschrift Der Jude. Revue der jüdischen Moderne entstanden.31
Am 8. Mai 1903 schreibt Martin Buber an Ivan Franko aus Wien:
Sehr verehrter Herr Doktor!
Für Ihre freundliche Zusage, die uns sehr gefreut hat, sprechen wir Ihnen unseren herzlichen
Dank aus. Der angekündigte Beitrag wird uns überaus willkommen sein. Doch möchte ich
Ihnen nahelegen, ob die Form einer Skizzenreihe dem Gegenstand nicht besser entsprechen
dürfte als die einer fortlaufenden Erzählung. Uns wäre die erstere auch deshalb angenehmer,
weil wir dann die Sache neben der in den ersten Heften erscheinenden Erzählung bringen
könnten, während wir sonst auf deren Ende warten müßten. Selbstverständlich bleibt aber
die Entscheidung ganz und gar Ihrem persönlichen Ermessen überlassen.
In vorzüglicher Hochachtung
Martin Buber32
Die Erinnerungen erschienen erst 1934. Die betreffende Stelle ist, wie die meisten
zentralen Stellen bei Ivan Franko, in Form der unmittelbaren Rede gefasst:
»Kinder«, rief die Mutter mir und meinen Geschwistern [zu], »seht, was mir die Sara für euch
mitgegeben hat!«
Sie brach die trockenen Brotstücken [sic!] und verteilte sie unter uns.
30 | Franko, Ivan: Meine jüdischen Bekannten. In: ders.: Beiträge zur Geschichte und Kultur
der Ukraine, S. 50-58.
31 | Vgl. NN: Kommentar zu »Meine jüdischen Bekannten«. In: Franko: Beiträge zur Ge-
schichte und Kultur der Ukraine, S. 528.
32 | M. Buber an I. Franko v. 8.5.1903. In: Franko: Beiträge zur Geschichte und Kultur der
Ukraine, S. 504.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur