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Ingrid Puchalová
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Beteiligung und Verantwortung aus dem Diskurs völlig ausgeblendet wurden, und
dementsprechend wird sie im Gedicht von Frischauf-Pappenheim auch gedeutet:
»Graviditas« als Zustand, in dem sich der weibliche Körper befindet. Die Situation
der Schwangeren vergleicht die Lyrikerin mit der Situation der Gefallenen: »Ohne
Hoffnung, ohne Dank/Scheu und schimmernd, wie in metallnen/Schalen dunkel-
roter Trank.«40 Zuflucht bieten die Erinnerungen an die Kindheit. Das, was letzt-
endlich übrig bleibt, ist das Gefühl des Ausgeliefertseins, der völligen Macht- und
Wehrlosigkeit: »Doch kindlich wird Euch Blick und Gebärde,/wenn Eure Hoffnung
ins Werden taucht.«41
1930 veröffentlichte Marie Frischauf-Pappenheim, die als Anästhesistin bei den
von Doktor Fritz Jensen durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen mitarbeitete,
zusammen mit Annie Reich die bis heute aktuelle Informationsbroschüre Ist die
Abtreibung schädlich?. Die beiden Autorinnen sprachen darin den Frauen ein Selbst-
bestimmungsrecht in Bezug auf ihren Körper und die Gestaltung ihres Lebens zu
und legten mit ihrer Schrift die Grundlage zu einer engagierten Diskussion.
Marie Frischauf-Pappenheim verband mit dem österreichischen Komponisten,
Kompositionslehrer, Dichter, Maler und Modernisten Arnold Schönberg, der sie
1910 porträtierte, eine lebenslange Freundschaft. 1909 verfasste sie das Libretto zu
seinem Monodrama Erwartung.
Es war auf dem Land, in Steinakirchen [am Forst, Niederösterreich – Anm. d. Verf.]. Wir waren
eine große Gesellschaft: Schönberg, seine Schüler, Alban Berg, Anton Webern, Erwin Stein.
Da sagte Schönberg zu mir: Schreiben Sie mir eine Oper! Ich sagte: »Eine Oper kann ich nicht
schreiben. Höchstens ein lyrisches Monodrama.« Schönberg daraufhin: »Schreiben Sie, was
sie wollen!« Ich fuhr kurz darauf an den Traunsee zu Freunden und schrieb dort dieses durch
und durch lyrische Monodrama. Es ist eigentlich ein Liebesbrief – aber nicht an Schönberg!
Es war in drei Wochen fertig, und ich zeigte es Schönberg, der es in drei Wochen vertonte.42
Trotz der Versuche von Kraus und Schönberg, ihr dichterisches Talent zu fördern,
entschied sich Marie Frischauf-Pappenheim für den Beruf der Ärztin. »Ich wollte
nicht als Lyrikerin durchs Leben wandern. In meinen Augen vertrug es sich nicht,
Ärztin zu sein, das heißt mit beiden Füßen in der Wirklichkeit zu stehen, und zu-
gleich lyrische Gedichte zu veröffentlichen.«43
Für die Emanzipation der Frauen um 1900 setzte sich auch die Publizistin Elsa
Grailich ein: Sie engagierte sich unter dem Einfluss von Adelheid Popp und August
Bebel in der sozialdemokratischen Bewegung. Sie stand mit Auguste Fickert, der
Wiener Frauenrechtlerin und Herausgeberin der Zeitschrift Neues Frauenleben, in
Briefkontakt. In dieser von 1902 bis 1914 erschienenen Zeitschrift veröffentlich-
te Grailich vier Artikel zur Problematik der Frauenemanzipation, des Familienle-
bens, der gesellschaftlichen Hilfe und Wohltätigkeit, wobei sie das Spannungsfeld
der gesellschaftlich-kulturellen Modernisierung und des damit verbundenen Wer-
tewandels in den Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung rückte:
40 | Ebd.
41 | Ebd.
42 | Zit. n. Patka: Nachwort, S. 112.
43 | Ebd., S. 109.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur