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»Die Dinge reden im Lichte eine andere Sprache als im Dunkeln.« 203
Die Proletarierfrau war seit Jahrzehnten zum abgehetzten Arbeitstier geworden, dessen dop-
pelte Last zu erleichtern, deren Rechte als Mensch, als Weib und Mutter Geltung zu ver-
schaffen in erster Linie die dringendste Forderung jeder sozial-ökonomischen Bestrebung
sein mußte. Der Wirkungskreis der bürgerlichen Frau hinwieder war bis vor kurzem auf den
engsten Kreis des häuslichen Lebens beschränkt, die gesellschaftlichen Vorurteile verboten
es ihr, ihre Kräfte auf öffentlichen Gebieten zu betätigen, und war sie auf Erwerbsarbeit an-
gewiesen, so mußte sie dieselbe fast nur im Geheimen betreiben, wobei ihr natürlich nur eine
sehr geringe Auswahl an Erwerbsmöglichkeiten zu Gebote stand. Die Verhältnisse haben sich
geändert – der Frau stehen heute ungezählte Gebiete offen, die ihr bisher verschlossen wa-
ren, aber indem sie die Gelegenheit zur vollen Entfaltung ihrer Kräfte wahrnahm, wollte sie
sich doch auch ihr Recht als Geschlechtswesen nicht verkürzen lassen, und dieser Weg führ-
te sie, wenn sie nicht gleich der Arbeiterfrau unter der Ueberbürdung doppelter Berufslast
schier unterliegen wollte, geradeaus zu jenem Punkte, von dem einst die ersten Begründer
der sozialistischen Bewegung ausgingen: zur Sozialisierung des häuslichen Lebens auf Kos-
ten eines individuellen, abgeschlossenen Kreises, den man einst sein »Heim« nannte.44
Elsa Grailich war eine vielseitig begabte Künstlerin. Ihr Werk umfasst publizis-
tische Texte, Prosatexte und Gedichte, politisch engagierte Schriften, Essays und
sozialkritische Artikel, Reise- und Kulturberichte, Rezensionen. Zahlreiche Auf-
sätze veröffentlichte sie nach ihrer Niederlassung in Preßburg (1906) in den dort
erscheinenden Blättern, so im Grenzboten, in der Preßburger Presse und der Preß-
burger Zeitung. Für ihre publizistische und literarische Tätigkeit zeigte ihre Familie
wenig Verständnis. Ganz im Einklang mit dem damaligen bürgerlichen Lebensstil
wünschte sich ihr Vater für sie ein »Dasein im Wohlbehagen eines geordneten Fa-
milien- und Ehelebens«.45 Elsa Grailich blieb aber unverheiratet. Trotz mehrerer
Angebote übernahm sie nie eine feste Stelle und war immer nur als externe Mit-
arbeiterin tätig.
3. KulTurelle idenTiTäT
Die deutschsprachige Literatur auf dem Gebiet der heutigen Slovakei entwickelte
sich über Jahrhunderte unter komplizierten gesellschaftlichen und historischen
Bedingungen. Viera Glosíková sieht deren Spezifik darin, dass sie sich als Literatur
mit stark regionaler Tendenz entfaltete, die aber stets Bindungen an die deutsch-
sprachige Literatur in ihrer Gesamtheit aufwies.
Der reflektierte Umgang mit deutschsprachigen Textzeugnissen aus dem Ge-
biet der heutigen Slovakei legt ein spezielles Beziehungsgeflecht zwischen dem
Eigenen und dem Fremden offen und erfordert inter- und transkulturelle Kompe-
tenz. Dies meint nicht nur die Erkenntnis, dass die deutschsprachige Literatur aus
der Slovakei nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern auch die Erfahrung,
44 | Grailich: Sozialisierungsbestrebungen und Familienleben. In: Neues Frauenleben 1
(1911), S. 5-7, hier S. 6f.
45 | Terray, Elemír: Zum Gedenken an die burgenländische Sozialdemokratin Elsa Grailich,
Redakteurin und Schriftstellerin in Preßburg (Bratislava), aus Anlaß ihres 10. Todestages.
In: Beiträge zur Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Sudeten-, Kar-
paten- und Donauraum 1980, S. 28-41, hier S. 29.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur