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Nomadische Berufspraxis und Attraktion der Großstadt 259
ble gewesen war und auch später von Reinhardt häufig bei Besetzungen bevorzugt
wurde.88
Max Reinhardts Inszenierung von William Shakespeares Ein Sommernachts-
traum im Januar 1905 im Neuen Theater war ein Meilenstein in der Etablierung sei-
nes Regiekonzepts. Auch für Tilla Durieux war die ungewöhnliche Gegenbesetzung
des Elfenkönigs Oberon – Gertrud Eysoldt spielte die klassischere Hosenrolle des
Puck – eine wichtige schauspielerische Etappe, auch wenn die meisten Kritiker ihrer
Interpretation der Rolle nicht folgen konnten: Friedrich Düsel meinte in der Berliner
Deutschen Zeitung, dass sie den Oberon »zu bewußt und anspruchsvoll«89 gab, in der
Neuen Freien Presse schrieb ein Berlin-Korrespondent, dass Tilla Durieux als Oberon
ein »arger Mißgriff«90 war, dass die fehlende Grazie durch »heftige Gestikulation«91
ersetzt wurde. Theodor Müller-Fürer, Kritiker der Neuen Preußischen Zeitung, sagte
über Durieux’ Oberon, er sei von »frischer, kräftiger Art«,92 und auch Julius Hart,
Vertreter des Naturalismus und Theaterkritiker bei der politisch national-konserva-
tiven, aber kulturell eher liberalen Berliner Tageszeitung Der Tag, meinte:
Ein Verlangen ganz besonderer Eigenart, nach auffällig Neuem, überraschender Originalität
zeigte Tilla Durieux als Oberon. Wie ein böser Nebelstreif stand sie am Anfang in der Land-
schaft, und sie betonte auffällig ein finster-gespenstisches Erlkönigwesen, das im großen
und ganzen dem Oberon gewiß nicht zukommt.93
Das Fehlen jeglicher Naivität im Spiel von Tilla Durieux war es wohl, das die Kriti-
ker irritierte und sie als Schauspielerin von der großen Mehrzahl ihrer Kolleginnen
abhob, die mittels gespielter oder echter Naivität dem Publikum zu gefallen trachte-
ten. Dem Berliner Publikum jedoch gefiel die Reinhardt’sche Inszenierung ebenso
wie die große schauspielerische Ensemble-Leistung, und der Sommernachtstraum
wurde mit über 300 Aufführungen eine der erfolgreichsten Reinhardt-Inszenie-
rungen überhaupt.
»Berlins Publikum war gefürchtet wegen seiner Heftigkeit, mit der man bei der
Premiere ein neues Stück, das nicht gefiel, ablehnte«,94 schrieb Tilla Durieux später
in ihren Erinnerungen Eine Tür steht offen, und so erlebte auch sie bald ihren ers-
ten Theaterskandal: Hermann Bahrs Trauerspiel Sanna wirkte auf das Publikum
88 | Preuß, Joachim Werner: Einleitung. In: Loeper, Heidrun/Prescher, Ina/Rolz, Andrea
(Hg.): Tilla Durieux. »Der Beruf der Schauspielerin«. Berlin: Archiv der Akademie der Künste
2004, S. 7-11, hier S. 8.
89 | Düsel, Friedrich: [Kritik zu Shakespeares Sommernachtstraum]. In: Deutsche Zeitung
v. 2.2.1905, zit. n. Jaron, Norbert/Möhrmann, Renate/Müller, Hedwig: Berlin – Theater der
Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889–
1914). Tübingen: Niemeyer 1986, S. 568.
90 | NN: Aus Berlin … In: Neue Freie Presse v. 3.2.1905, S. 10.
91 | Ebd.
92 | Müller-Fürer, Theodor: [Kritik zu Shakespeares Sommernachtstraum]. In: Neue Preußi-
sche Zeitung v. 1.2.1905, zit. n. Jaron/Möhrmann/Müller: Berlin – Theater der Jahrhundert-
wende, S. 572.
93 | Hart, Julius: [Kritik zu Shakespeares Sommernachtstraum]. In: Der Tag v. 2.2.1905,
zit.n. Jaron/Möhrmann/Müller: Berlin – Theater der Jahrhundertwende, S. 573.
94 | Durieux: Eine Tür steht offen, S. 51f.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur