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Nomadische Berufspraxis und Attraktion der Großstadt 261
1909 gastierte sie in Budapest, wo sie sehr wohlwollend aufgenommen wurde –
Max Ruttkay-Rothauser etwa pries sie in seinem Feuilleton im Pester Lloyd über
die Aufführung von George Bernard Shaws Der Arzt am Scheidewege als »bedeu-
tende[…] schauspielerische[…] Persönlichkeit«105 – auch in Wilhelm Schmidtbonns
Der Graf von Gleichen erschien sie dem Kritiker des Pester Lloyd als »Künstlerin,
die in einer weitgespannten Skala alle Töne rein, ausdrucksvoll, mit stärkster Wir-
kung anzuschlagen wusste«.106 Ganz anders in ihrer Heimatstadt Wien, wo sie
im Jahr darauf gastierte und ebenfalls an der Seite von Paul Wegener in Schmidt-
bonns Stück Der Graf von Gleichen spielte, aber auch Hebbels Judith gab und die
Gertrude in Shakespeares Hamlet: Hier begegnete ihr die Kritik mit maximalem
Unverständnis. Im Wiener Montags-Journal hieß es über Durieux’ Judith: »Die ha-
gere Tilla Durieux ist gewiß keine große Künstlerin […]«.107 In der Arbeiter-Zeitung
ließ sich der Theaterkritiker und Gründer der Freien Volksbühne in Wien, Stefan
Großmann, zu der zweifelhaften Charakterisierung von Tilla Durieux als »inter-
essante Mongolin« hinreißen, die in der Rolle der Gräfin »nicht genug deutsch«108
gewesen wäre, während der Kritiker des Deutschen Volksblatts seiner Gehässig-
keit gänzlich freien Lauf lässt – »Man kann sich ihr Spiel nur mit geschlossenen
Augen gefallen lassen«109 – und damit auf ihr Aussehen abzielte, das v.a. in ihren
frühen Jahren als Schauspielerin als hässlich galt.
Noch im Jahr 1926 schrieb der jüdische Theaterkritiker und Publizist Julius
Bab auf die Vorkriegszeit zurückblickend:
Vor mehr als drei Jahrzehnten110 trat in Max Reinhardts eben aufstrebendes Berliner Ensem-
ble eine junge Anfängerin aus Breslau ein; das war die Durieux. Und nicht viel später kam
von Hamburg, wo er eben begonnen hatte, sich einen Namen zu machen, Paul Wegener. Und
dann waren die beiden etwa ein Jahrzehnt lang die stärksten Stützen des […] Ensembles des
»Deutschen Theaters« und der »Kammerspiele« in Berlin. […] Bei allen Unterschieden […]
herrscht zwischen der Durieux und Wegener eine große typenhafte Ähnlichkeit. Es ist ein öst-
licher Typ, der vom slawischen fast ins tatarisch-mongolische reicht: die stark vorspringen-
den Backenknochen, die breiten Lippen, die gewölbte Stirn, die unter hohen Brauen etwas
gekniffenen Augen, sie sind für beide kennzeichnend. Sie stammen beide nicht zufällig aus
105 | Ruttkay-Rothauser, Max: Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters. Bernhard Shaw:
»Der Arzt am Scheidewege«. In: Pester Lloyd v. 24.5.1909, S. 1-2, hier S. 2.
106 | R.: Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters. In: Pester Lloyd v. 27.5.1909, S. 8.
107 | NN: Theatralia (Gastspiel des Deutschen Theaters – Hofburgtheater). In: Wiener Mon-
tags-Journal v. 16.5.1910, S. 1-2, hier S. 1.
108 | St. gr. [Stephan Großmann]: Gastspiel Max Reinhardt. in: Arbeiter-Zeitung v. 28.5.
1910, S. 7-8, hier S. 8.
109 | -ei-: Gastspiel der Berliner im Theater an der Wien. In: Deutsches Volksblatt v.
28.5.1910, S. 13.
110 | Hier irrt sich Julius Bab: Tilla Durieux ist im Herbst 1903 in Max Reinhardts Ensemble
eingetreten, das sind aus der Sicht von 1926 etwas mehr als zwei Jahrzehnte, doch nicht
drei.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur