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© 2021 V&R unipress, Brill Deutschland GmbH
ISBN Print: 9783847113232 – ISBN E-Lib: 9783737013239
Entscheidungsstrategie, die dafür ameffektivsten ist, hat Tannenbaum1985 in
einer Studie über Rezeptionsverhalten als „the familiar-with variation“-Strate-
gie55bezeichnet. Zwar entwickelt er sie ausderAnalyse vonFernsehrezeptions-
verhalten, sieht sie aber grundsätzlich als die häufigste Entscheidungsstrategie
Erwachsenerüberhaupt.
Wie G2 gezeigt hat, beginnt die Rezeption als Akt der Interpretation bzw.
Aneignung bereitsmitMutmaßungen über ein nicht gelesenes Buch. Rezepti-
onsvergnügen als Gruppenerlebnis wird als Interaktionsvergnügen sowohlmit
demTextalsauchmitbzw. innerhalbderGruppeerlebt.56Entsprechendgroßist
die Befürchtung, dass die durch paratextuelle Informationen bekannte domi-
nante Lesart („Nobelpreisträger“) das gewohnte Involvement behindere, eine
Konvergenz zwischenLebenswelt undText, eineKonvergenz zwischenTextan-
gebot undGruppenidentität nicht herstellbar sei, also die Investition von Zeit
undAnstrengung letztlich nicht lohne.DieseGefahr gilt es durch flankierende
Maßnahmen imEntscheidungsprozess soweit zuminimieren, dassmanange-
strebte ‚Gratifikationen‘ auch erhält. Eine dieserMaßnahmen ist die Informa-
tionssuche.
DieMitgliedervonG2gehörendensogenanntenInformationssuchernan,die
einhohesInformationsbedürfnishaben,bevorsieeineEntscheidungtreffen(vgl.
Atkin1973).BeiderInformationsbeschaffungverlassensichdieMitgliedervon
G2 vorzugsweise auf die durch Vorauslektüre erworbenen Erkenntnisse und
Einschätzungen andererMitglieder.Dafür nimmt sichdieGruppeZeit und sie
gönnt sich einen längerenEntscheidungsprozess (Buchauswahl für die nächste
bzw.übernächsteSitzung),dennesgilt,dieInvestitionskostenanZeitundMühe
imVerhältnis zumerwartbarenNutzenmöglichst gering zuhalten. ImSelekti-
onsprozess werden also Selektions-, Rezeptions- und Vermeidungskosten ge-
genüber dem erhofften/erwartbaren Nutzen abgewogen.57 Wer will am Ende
schonzugebenmüssen,ZeitundMüheumsonstaufgewendetzuhaben,weilman
eine schlechte, d. h. auf ungenügender oder unverlässlicher Information ge-
gründete, Lektürewahl getroffenhat, nurumSelektionskosten zuvermeiden.
WereinBuchzurGruppenlektürevorschlägt, vonderwirderwartet, dass sie
dieGruppedavonüberzeugt(oderzumindestüberredet),dassdieLektürelohnt.
DieserpersuasiveKommunikationsaktwurde– inanderenZusammenhängen–
vonCacioppo, Petty et al. beschrieben.58Abhängig vonder innerenMotivation
eines Rezipienten, einer Rezipientin und der inneren sowie äußerenMöglich-
keitenzurVerarbeitungeinesKommunikationsangebotskanndieBotschafteine
55 Vgl.Tannenbaum1985, zit. n. Schweiger2007, S. 191.
56 SieheMoserG., „Vergnügen“, indiesemBand,S. 97f.
57 Vgl. ebd., S. 188. Die Begrifflichkeit wurde von Atkin 1973 erstmals formuliert und in
seinemInformational-Utility-Ansatzmodelliert.Dazuauchebd., 188ff.
58 Cacioppo et al. 1986.
DorisMoser62
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Über Bücher reden
Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Title
- Über Bücher reden
- Subtitle
- Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Author
- Doris Moser
- Editor
- Claudia Dürr
- Publisher
- V&R unipress
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1323-9
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 262
- Category
- Lehrbücher