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© 2021 V&R unipress, Brill Deutschland GmbH
ISBN Print: 9783847113232 – ISBN E-Lib: 9783737013239
Leserin, die selbst (nebenberuflich) literarische Texte schreibt, hat durch ihre
Produktionsperspektive einanderes, beweglicheresVerständnis vonTexten. Sie
kannVeränderungsmöglichkeiten,Alternativenimaginierenundswitchtauchin
ihren Redebeiträgen zwischen den Rollen Schreibende und Lesende. Andere
Mitglieder dieses Lesekreises haben sichdiesenBlick ebenfalls einwenig ange-
eignet, setzen diese Rhetorik hin undwieder ein – undman kann annehmen
aufgrundderVorbildwirkungderdominantenKollegin.
WennDavid Peplow u. a. fragen, obmanche Lesekreismitglieder nicht nur
eher in der Lage, sondern auch berechtigter sind als andere, Texte ‚besser‘ zu
interpretieren,59 meinen sie Personen wie jene Autorin mit literaturwissen-
schaftlicherAusbildung.VorwissenunddieVertrautheitmitKonventionendes
größerenRahmensalleinsind jedochnichtausreichend, relevant istdieRolle in
derGruppe,nichtnurSelbstpositionierung,sondernAnerkennungderanderen.
Esmusszudemnicht literaturwissenschaftlicheKompetenzsein,vondereine
Gemeinschaft profitiert. Eine Lektüre, die ein finnisches Lesekreismitglied als
wichtige Erfahrung für ihre Identitätsfindung in Österreich erlebte und schil-
derte–MalinavonIngeborgBachmann–,wirdfürdiegesamteGruppezueinem
positivenErlebnis, obwohl diese zunächst eine abwehrendeHaltung gegenüber
dem als „schwierig“ geltenden Werk hatte („Bachmann lesen wir nicht“60).
AufgrundderstarkenaffektivenBesetzungdesMitglieds (sie sagte„sie liebtdas
Buch“61) öffnet sich dieGruppe langsam („okay, dann soll sie uns das vorstel-
len“62), beschäftigt sichdamit („dannhabenwirdas gelesen“; „langsambegrif-
fen“) und zieht ein klares Fazit: „das hast duuns erschlossen“63. Lernenmeint
nichtnurdenErwerbvonWissen,FertigkeitenundGewohnheiten,sondernauch
Veränderung von Identität.Wir eignen unsWissen und Fähigkeiten nicht um
ihrer selbstwillenan.
ImLaufe der Zeit generieren Lesekreise ein gemeinsamesWissens- undEr-
fahrungsreservoir, aufdassie regelmäßigzurückgreifen. Inder jeweilsaktuellen
Diskussionwirdanvorhergehendeerinnert,werdennichtnurdieEindrückeund
Bewertungen der gelesenen und diskutierten Bücher in Relation zueinander
gesetzt. Das führt zu einer Verfeinerung des Gespürs auf Basis gemeinsamer
Bewertungskriterien, Lesekreise erhöhen sukzessive ihre ‚Fallbibliothek‘. Die
Wahrnehmung vonDifferenzen zwischendemkonkreten Fall undparadigma-
59 Peplowsprichtvon„entitlementtointerprettextsina ‚better‘waythantheothers“undnennt
als Beispiel „professorship inmodernist fiction“, „nor have anymemberswritten andpu-
blished fiction themselves – two categories of identity thatwould likely give a reader’s in-
terpretationcredibility.“Peplow2016, S. 24.
60 Bw1 inG2/D4,Z. 1810.
61 Bw1 inG2/D4,Z. 1822.
62 Bw1 inG3/D4,Z. 1824.
63 Bw1 inG3/D4,Z. 1827.
LesekreisealsOrtedesWissens 81
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Über Bücher reden
Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Title
- Über Bücher reden
- Subtitle
- Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Author
- Doris Moser
- Editor
- Claudia Dürr
- Publisher
- V&R unipress
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1323-9
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 262
- Category
- Lehrbücher