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© 2021 V&R unipress, Brill Deutschland GmbH
ISBN Print: 9783847113232 – ISBN E-Lib: 9783737013239
6 Ko-Konstruktionund face-work
Von diesen Fallbeispielen lassen sich folgende allgemeine Beobachtungen ab-
strahieren: Die Kommunikation in Foren verläuft asynchron und folgt dem-
entsprechend anderenKonventionen als f2f. Online-Gespräche über Literatur
können einerseits als Transposition der direkten Kommunikation einer Lese-
gruppe ineinanderesMediumbetrachtetwerden,wodurchdieSprechsituation
zu einer zerdehnten, wie vonKonrad Ehlich beschrieben, wird: Der Text wird
zumMittler ineinemasynchronenGesprächohneKo-PräsenzvonProduzentIn
undRezipientIn der Äußerung.50Wie Ehlich bemerkt, entfallen dadurch zahl-
reiche Vorzüge der direkten Kommunikationssituation, etwa die gemeinsame
Wahrnehmung, die das gemeinsameVerständnis fördern kann: „Das sinnlich
GewissegarantiertunsUnmittelbarkeit,Direktheit,Zugänglichkeit.Vondiesem
Vorzug profitiert die face-to-face-Kommunikation.“51 In zerdehnter Kommu-
nikationmussdieentfallendegemeinsameWahrnehmungkompensiertwerden,
wasmiteinemhöherensprachlichenAufwandverbundenist.52DiesesPhänomen
kannvorallembeiLeserundenbeobachtetwerden,beidenendiesersprachliche
Aufwand am stärksten ausgeprägt ist, etwa durch die oben genannten Indika-
toren,gleichzeitigistinLeserundendasMaßanInteraktionundKooperationam
höchsten.Ko-Konstruktion vonBedeutung ist sowohl bei F2F-Lesegruppen als
auchbeiOnline-Leserunden festzustellen, nicht aber inBuchdiskussionen (die
generell einengeringerenGradan Interaktionaufweisen).Dieses hoheMaßan
KooperationundHöflichkeit scheinteinenkommunikativenZweckzuerfüllen.
Bereits SwannundAllingtonhabendarauf hingewiesen,dassMitglieder von
Lesegruppen face-workbetreiben.53 face-work54 ist dieArbeit daran, das eigene
Gesicht–alsodeneigenenpositivenWert insozialenInteraktionen–zuwahren
sowie das Gesicht anderer zu respektieren. JederMensch betreibt in sozialen
Interaktionen face-work, sie bildet also eineMöglichkeit,mit anderenMeinun-
gen umzugehen, ohne Schaden an deren (oder am eigenen) Gesicht zu verur-
sachen. Auf sprachlicher Ebene kann face-work etwadurch subjektive und ab-
schwächendeFormulierungenbeobachtetwerden.
WievonSwannundAllingtonangemerkt,hat face-workonlineeinegeringere
Bedeutung,weil dieGruppenunverbindlicher sind:55DasGesicht zuwahren ist
nicht unbedingt erforderlich, da die Interaktion anonymund ohneVerpflich-
50 Vgl. Ehlich2007, S. 542.
51 Ebd., S. 540.
52 Vgl.Koch/Oesterreicher1994, S. 590.
53 Vgl. Swann/Allington2009, S. 254.
54 DerBegriffwurdevondemSoziologenErvingGoffmangeprägtundauchals„Image-Pflege“
insDeutscheübersetzt.Vgl.Goffman2013.
55 Vgl. Swann/Allington2009, S. 254.
KatharinaEvelinPerschak126
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Über Bücher reden
Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Title
- Über Bücher reden
- Subtitle
- Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Author
- Doris Moser
- Editor
- Claudia Dürr
- Publisher
- V&R unipress
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1323-9
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 262
- Category
- Lehrbücher