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© 2021 V&R unipress, Brill Deutschland GmbH
ISBN Print: 9783847113232 – ISBN E-Lib: 9783737013239
Opfern zu erregen“, lobtMichaelNaumann.60Bernhard Fetz attestiertMüllers
metaphernreichemStil „angesichts der Lagerrealität seltsamkraftloswirkende
Sprachbilder“.61InsgesamtsetztsichdeutlichdieMeinungdurch,derRomansei
einMeisterwerk. FürKarl-MarkusGauss ist es ein „kühne[s] Sprachkunstwerk,
das seinesgleichen sucht in der Literatur unserer Zeit“,62 ähnliche Formulie-
rungen findensich invielenRezensionen.
Die Referentin in der Lesegruppe hat ‚Besprechungen‘ (auch zu anderen
BüchernMüllers) recherchiert, dieMüller eine „Intensität der Sprache“ attes-
tierten, und geht davon aus, dass dieAtemschaukel „so ein bisschen dasAus-
schlaggebende“ fürdenNobelpreis gewesen ist (G3/D2/B4, Z. 1527–1530).Dar-
überhinauszitiertsieausRadischs„negative[r]Kritik“ inderZeit,„Ja,eine[…]
sehrKRITISCHEKritik“ (G3/D2/B4, Z. 1597), teilt deren zentraleKritikpunkte
(s.o.)nichtundwechseltsofortzurlobendenStimmevonKarlMarkusGauß,aus
dessenRezension sie „gerne“ (G3/D2/B4, Z. 1609) zitiert.Müller imponiert der
Sprecherin als ein multioptionales Gesamtkunstpaket mit glänzenden Bewer-
tungenauf vier„Ebenen“ (G3/D2/B4,Z.1738), erstensalseineAutorin,die„auf
derMETAEBENE[…]WAHNSINNIGreflektiert“ (G3/D2/B4,Z.1719–1719) ist,
zweitens in „diesemUNGLAUBLICHENpolitischenAussagewillen“ sowiedrit-
tens und viertens in Hinblick auf Erzählsprache („schlichtweg vollkommen
einzigartig,wiesieschreibt“,G3/D2/B4,Z.1593)undinhaltlicheAussage,diesich
freilichnichtvondersprachlichenEbenetrennenlässt:„Dasreicht füreineWelt
fürmich. Das reicht, ummir eineWelt zu eröffnen.“ (G3/D2/B4, Z. 1744) Im
Gegensatz zur Interpretation von Michael Naumann, der Müller zutraut, im
HerzenihrerLeserinnenundLeserMitleidmitdenOpfernerzeugenzukönnen,
fühlt sich die Sprecherin in ihremÜberlebenswillen bestärkt und in der Per-
spektive, dass keineLebenssituation so schrecklich ist, dassman ihrnichts Po-
sitives abgewinnen kann: „die Distanz, dieman BRAUCHT, um es überhaupt
aushaltenzukönnen“–„Siezeigtmir,dassmanselbst indiesemschrecklichsten
DingistmanMENSCHundhatNUANCENdesErlebensundkannsicherfreuen
daran, dassmaneinenTango tanztmit einer Schaufel.“ (G3/D2/B4, Z. 1687) In
der Lesegruppe finden diese überaus positivenWertungen Zustimmung –mit
Ausnahme einer Sprecherin, für die (zum Erstaunen der anderen Teilnehme-
rinnen)diekunstvoll-elaborierteSprachemitdenschreckenerregendenInhalten
desRomanskollidiert.Dabei argumentiert sie imGegensatz zurLiteraturkritik
nichtmitVerweis auf theoretisch-abstrahierendeDiskurse (s. o.), sondernmit
Bezugaufdie subjektiveWahrnehmung,dieUnzufriedenheit, jaBestürzung im
Leseprozess selbst: „Ich finde die Sprache schrecklich. Das macht mir keine
60 Naumann2009.
61 Fetz2009.
62 Gauss2009. RenateGiacomuzzi /GerdaE.Moser
/VeronikaSchuchter162
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Über Bücher reden
Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Title
- Über Bücher reden
- Subtitle
- Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Author
- Doris Moser
- Editor
- Claudia Dürr
- Publisher
- V&R unipress
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1323-9
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 262
- Category
- Lehrbücher