Page - 164 - in Über Bücher reden - Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
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© 2021 V&R unipress, Brill Deutschland GmbH
ISBN Print: 9783847113232 – ISBN E-Lib: 9783737013239
„persönliche Erfahrung“, die sichwiederumvom „akademischen Zugang“un-
terscheidet. Ist das stichhaltig inHinblick auf ein Fazit, das sich aus den vor-
ausgegangenenAusführungenziehenlässt?UndwasbedeutetdasmitBezugauf
einenVergleichvonliterarischenWertungeninFace-to-FaceLeserundenundim
Feuilleton?
Inder Summeund imGrundton ihrer Bewertungen, nämlich positiv versus
negativ, sind sich Lesegruppen und Feuilleton in drei von sechs Fällen einig,
womitsichzumindestindiesemPunktnichtentscheidenlässt,obsichdiebeiden
Seiten grundsätzlich widersprechen oder -spiegeln. Ähnlich wohlwollende bis
euphorisch gut gestimmte Kritiken aufgrund von ähnlichen Wertmaßstäben
erhalten JohnWilliams’ Stoner und Herta Müllers Atemschaukel.Aus unter-
schiedlichen Gründen ambivalent ist sowohl in Leserunde als auch Literatur-
kritikdieBewertungvonT.C.BoylesWenndasSchlachtenvorbeiist.ImKontrast
zur Einschätzung im Feuilleton wird die Diskussion zu Nadine Kegeles Bei
Schlechtwetter bleibenEidechsen zuHause in der Lesegruppe einVerriss, auch
UrsWidmersDasBuchdesVatersundZsuzsaBánksDiehellenTageüberzeugen
dieLesegruppeweniger alsdieLiteraturkritik.
WirddasFeuilleton zuden ‚akademischen‘FormendesUmgangsmitBelle-
tristik gezählt, so zeigt sich dessen akademischer Stil nicht immer als Nüch-
ternheit imUrteiloderalsTransparenz indenKriterienderBewertung.Ähnlich
den Lesegruppen wird überschwänglich gelobt oder genörgelt, mitunter auch
ohneErläuterungvonkonkretenTextstellenundSprach-undErzählstrukturen
wie in Rezensionen zu denRomanenHertaMüllers undT. C. Boyles. Freilich
werden im Feuilleton formal-ästhetische Besonderheiten weitaus eher in den
BlickgenommenalsindenLeserunden,z.B.beiWidmerundBánk,undineiner
fürdieZunft typischen,elaboriertenSpracheetikettiert,währendsiesich inden
LesegruppenniederschlagenalsdieWidrigkeitenundFreudenderLektüre,über
diemansichaustauscht. InLesegruppenfühltunddiskutiertmandahereher im
basal-erlittenen (siehe besonders die Aufregungen rund um Nadine Kegeles
Roman), imFeuilleton imtheoretisch-diskursivenSinn.
InHinblick auf dieAspekte FunktionundGebrauchderLiteratur zeigt sich
der größte Unterschied, und er lässt die oben zitierte Gegenüberstellung von
„ästhetisches Kriterium“ versus „persönliche Erfahrung“ als durchaus rich-
tungsweisend, aber auchmissverständlich erscheinen. Erhellend ist in diesem
Zusammenhangv. a. dasBeispiel derLesegruppe2,die ausderSichtdesFeuil-
letons (undwohl auchdesLiteraturunterrichts imFachDeutschoderder Lite-
raturwissenschaft) das Ziel verfehlt, ein literarischesKunstwerk (s. dieDiskus-
sion zuWidmer) in seinemAnspruch auf ästhetischeAutonomie (an)zuerken-
nen. ImBlickwinkel derGruppe ist es freilichderAutor selbst, dermit seinem
RomandenvonderGruppehochgehaltenenWertverfehlt,inBeziehunggehenzu
können. Dabei wird das Buch nicht aufgrund ‚persönlicher‘ oder ‚subjektiver‘
RenateGiacomuzzi /GerdaE.Moser
/VeronikaSchuchter164
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Über Bücher reden
Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Title
- Über Bücher reden
- Subtitle
- Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Author
- Doris Moser
- Editor
- Claudia Dürr
- Publisher
- V&R unipress
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1323-9
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 262
- Category
- Lehrbücher