Page - 175 - in Über Bücher reden - Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
Image of the Page - 175 -
Text of the Page - 175 -
© 2021 V&R unipress, Brill Deutschland GmbH
ISBN Print: 9783847113232 – ISBN E-Lib: 9783737013239
digitalenTransformationzumkollaborativenSchreibenwird,und fragen,welche
FormenderKollaborationesüberhauptgibt,wieweitdiesenichtmitderSelbst-
darstellungbei LovelyBooksoderGoodreads invollkommenandereRichtungen
alsdiediversenannotierenden, auf TextekonzentriertenFormenzielen.
DieDeprofessionalisierung der Literaturkritik, die Bedeutungsverschiebung
des kulturellen Kapitals Lesen und ihre Bedeutung für die zugehörige soziale
Praxis und dann die Auflösung von Textkonventionen in andere (kleinere)
Einheiten, inVersionen, die nicht fertig sind, sondern fortgeschriebenwerden,
erscheinen vor diesemHintergrund als notwendigeKonsequenzen. Bestimmte
Konzepte von Social Reading – also analoges und seit einigen Jahren auch di-
gitalesgemeinschaftlichesLesenundDiskutierenüberdasGelesene–erweitern
dieMöglichkeitenvonLiteraturkritik, ersetzen sieabernicht, undsie erfordern
wiederumKonzepte einer neuen Professionalisierung für das Feld der Litera-
turkritik.
SozialwerdenLesenundSchreiben,wennsichMenschenüberTexteaustau-
schen. Geschichten, Bücher, unterhaltende, belehrende, kontroverse oder der
LiebehuldigendeTexte:EntscheidendistderAustausch, indemAutorundLeser
zuRollenwerden,dieausgewechseltwerdenkönnen,weilsiealskommunikative
Handlungsmusterbegriffenwerden.VordiesemHintergrundwirddeutlich,dass
eine grundsätzliche funktionaleUnterscheidungvonSocialReadingundSocial
Writingwenigsinnvollist.WoaufgrundsozialerKommunikationundAktiondie
Grenzen durchlässig werden, sind Schreiben und Lesen ohne einander nicht
mehr zuhaben.
Textorientiertes Social Readingwidmet seine gesamteAufmerksamkeit ein-
zelnen Stellen, Absätzen, Sätzen oderWörtern. Die Lese- und Entzifferungs-
strategie ähnelt dem Close Reading und bezieht damit eine Auffassung von
Texten ein, die eher an der Heiligen Schrift als an einem zunehmend fluiden
Mediumorientiert scheint.WährendaberCloseReadingNähenicht als Selbst-
zweckbestimmt, sondernErkenntnisproduktionmitAnspruch auf Allgemein-
gültigkeit betreibt, konstituiert textorientiertes Social Reading eher lokale, in-
dividuelle und interaktionsspezifische Sinnangebote. DieseUnterscheidung ist
nicht notwendig qualitativ relevant, sondern markiert eher die Adressierung
verschiedenerKontexte,wennnicht sogarDiskursräume.
DieBedeutungderNähenimmtallerdings indemMaßeab,wiedieLektüre
zumsozialenProzesswird, also sich tatsächlich imAustauschkonstituiert, um
danneineSummezuformulieren,diemehristals ihreeinzelnenTeileunddann
zu dem werden kann, was Franco Moretti „Distant Reading“5 genannt hat.6
Dieser Typus sozialen Lesens kennt konkrete Arbeitszusammenhänge, funk-
5 Moretti2000.
6 Vgl. Schmundto.J.
SocialReadingundLiteraturkritik 175
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Über Bücher reden
Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Title
- Über Bücher reden
- Subtitle
- Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Author
- Doris Moser
- Editor
- Claudia Dürr
- Publisher
- V&R unipress
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1323-9
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 262
- Category
- Lehrbücher