Page - 26 - in Viktor E. Frankl - Gesammlte Werke
Image of the Page - 26 -
Text of the Page - 26 -
Vorbemerkungen26
einander zwar in ihrem Effekt decken können, ihrer primären Intention nach jedoch
einander fremd sind:
Mag sie [die Religion] sich sekundär auch noch so günstig auswirken auf Dinge wie seelische
Gesundheit und seelisches Gleichgewicht: ihr Ziel ist nicht seelische Heilung, ihr Ziel ist das
Seelenheil. Religion ist keine Versicherung auf ein geruhsames Leben, auf möglichste Kon-
fliktfreiheit oder welche psychohygienische Zielsetzung auch immer. Religion verschafft dem
Menschen mehr als die Psychotherapie – und sie verlangt auch mehr von ihm.
Es kann vor diesem Hintergrund allerdings auch seitens der Religionsphilosophie als
eine durchaus berechtigte Anfrage erachtet werden, wenn der Religionsphilosoph und
Anthropologe Jörg Splett ergänzend bemerkt, in der Religion gehe es zuerst nicht um
den Menschen, sondern um Gott. Als Selbstreflexion des Glaubens sollte in dieser Hin-
sicht auch die Theologie „die eigentliche Zielbestimmung von Religion in der Anbetung
des Heiligen“ sehen (Splett 2005, 294–295). Frankl dürfte als Privatperson – als gläubi-
ger Jude – dieser Ergänzung vielleicht zustimmen können, als Arzt will er aber in seiner
Konfrontation mit der Religion den Gegenstand fokussieren, also das, was er bezĂĽglich
der Religiosität am Patienten sieht, bzw. was er in dieser Hinsicht vom Patienten hört:
Ist doch der Arzt an religiösen Fragen nicht als Arzt, nicht von Berufs wegen interessiert.
Kommen solche weltanschaulichen Fragen zur Sprache, dann ist er als Arzt zu bedingungs-
loser Toleranz verpflichtet.
BezĂĽglich weltanschaulicher Fragen umfasst die Verpflichtung des Arztes zu bedin-
gungsloser Toleranz daher auch jene Fälle, in denen ein Mensch von seiner Freiheit
Gebrauch macht, nicht auf einen Ăśber-Sinn zu vertrauen. Frankl rechnet also mit
der theoretischen Möglichkeit einer solcherart verstandenen irreligiösen Existenz.
Als praktizierender Arzt scheint er jedoch Zweifel zu hegen, ob der Atheismus im
konkreten Leben durchzuhalten ist:
Die Frage ist nur, ob es wirkliche Atheisten ĂĽberhaupt gibt. [...] ich [habe] auf Grund kasuis-
tischen Materials Ăśberlegungen angestellt, die dahin gehen, dass im Grunde, in der Tiefe des
Unbewussten, eigentlich jeder von uns zumindest im weitesten Sinne des Wortes gläubig ist,
mag dieser sein Glaube auch noch so sehr verdrängt und verschüttet worden zu sein.
Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Todes meldet sich etwa – meint Frankl
aufgrund seiner beruflichen Erfahrungen – nicht selten eben jene echte Religiosität
Open Access © 2018 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
back to the
book Viktor E. Frankl - Gesammlte Werke"
Viktor E. Frankl
Gesammlte Werke
Psychotherapie, Psychiatrie und Religion. Ăśber das Grenzgebiet zwischen Seelenheilkunde und Glauben
- Title
- Viktor E. Frankl
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Authors
- Alexander Batthyany
- János Vik
- Karlheinz Biller
- Eugenio Fizzotti
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20574-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 318
- Keywords
- Psychotherapie, Psychologie, Psychiatrie, Religion, Logotherapie, Existenzanalyse, Viktor Frankl
- Category
- Geisteswissenschaften