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Vorbemerkungen32
auch von lerntheoretisch und verhaltenstherapeutisch orientierten Experimentatoren in aller
Welt.
Es ist bezeichnend, wie zurückhaltend Frankl sich äußert, wenn es in diesem Ge-
spräch um die Frage seiner eigenen Religiosität geht. Ja, er scheint ähnlichen Fragen
hier lieber ausweichen zu wollen:
Aber wer kann sagen, er „glaubt“? Ich glaube nicht, es sagen zu können, dass ich glaube! Aber
zu diesem Erlebnis der relativen Bedeutungslosigkeit des „Bekenntnisses“ zu Gott können wir
nur vorstoĂźen, wenn Sie einmal ganz Mensch gewesen sind.
Mit diesem Ganz-Mensch-Gewesen-Sein meint Frankl die Erfahrung des absolu-
ten Nullpunkts, eines erbärmlichen Leidenszustands im Leben, in dem der Mensch
sich aufgibt, sich dem eigenen unabänderlichen Schicksal ergibt. Hier widerhallt die
Stimme seiner eigenen Lebenserfahrung, und es zeigt sich „die tragische Struktur des
Daseins“, die Wahrheit dessen, „dass menschliches Sein zutiefst und zuletzt Passion
ist“ (Frankl 1990, 331), wenn Frankl sagt:
Dort ist der Mensch hundertprozentig Mensch geworden, gerade in seiner Hilflosigkeit und
Machtlosigkeit, in seiner Entsagung, in seiner Jämmerlichkeit, in seinem Wurmsein ist er
Mensch geworden! Je „wurmer“ er ist, umso menschlicher ist er. Verstehen Sie, was ich mei-
ne – ich improvisiere, ich ringe selbst um Ausdruck.
Gleichwohl darf das Akzeptieren der Passion des Menschen nicht Selbstzweck sein,
wenn sie mit Sinn erfüllt werden soll. Sinnvoll kann man nur leiden, wenn man „um
eines Etwas, eines Jemand willen“ leidet, also nur, wenn man das unabänderliche
Leiden als Opfer versteht (Frankl 1990, 333f).
Frankls Ringen um den richtigen Ausdruck wird noch deutlicher, wenn es darum
geht, über Gott zu reden. Seine „existentialisierte Religiosität“ verbietet es ihm ja
beinahe, das Thema „Gott“ bzw. den Glaubensakt zu verobjektivieren. Deshalb kann
und will Frankl – ganz im Sinne des jüdischen Philosophen Martin Buber und seit
seiner persönlichen Erfahrung tiefster Not im KZ (Nurmela 2001, 100ff; 129ff) –
lieber zu Gott, dem ewigen Du, als von ihm sprechen. Und dass Frankl regelmäßig,
ja fast täglich gebetet hat, bestätigen einerseits die Worte seiner Frau Eleonore: „Er
wäre nie schlafen gegangen, ohne im Buch der Psalmen zu lesen. Er tat das auf Heb-
räisch, und auch auf Latein“ (E. Frankl et al. 2005, 79). Andererseits gewährt Frankl
selbst Einblick in sein eigenes Gebetsleben, wenn er – im Gespräch mit Pinchas La-
Open Access © 2018 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
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Viktor E. Frankl
Gesammlte Werke
Psychotherapie, Psychiatrie und Religion. Ăśber das Grenzgebiet zwischen Seelenheilkunde und Glauben
- Title
- Viktor E. Frankl
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Authors
- Alexander Batthyany
- János Vik
- Karlheinz Biller
- Eugenio Fizzotti
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20574-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 318
- Keywords
- Psychotherapie, Psychologie, Psychiatrie, Religion, Logotherapie, Existenzanalyse, Viktor Frankl
- Category
- Geisteswissenschaften