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Lichnowsky 73 Lichnowsky
dessen Gliedern innerhalb dieser Schranken
die größtmögliche Freiheit gestattet war. In»
dem die Heiligkeit einer überlieferten Religion
und eines von den Vätern ererbten Rechtes
Alle, von dem Kaiser auf dem Throne bis
zum Bettler an der Schwelle seines Palastes,
als die höchste Gewährleistung gleichsam ver»
pstichtend umschlang und zu einem Ganzen
verband, war der Charakter dieser christlichen
Verfassung ein wahrhaft historischer. Denn
das Christenthum überhaupt ist seinem inner»
sten Charakter nach wahrhaft historisch und
die eigentliche Religion der Geschichte, indem
es die Geschicke der Menschheit nie abbrechen,
sondern ihre Faden im Anbeginne der Zeiten
aus dem Rathe der schaffenden Gottheit und
ihrer Wächter hervorgehen und am Ende der
Tage in den Schooß der richtenden zurück,
gehen läßt. Diesem Geiste gemäß leitete auch
das Mittelalter alle irdische Gewalt uon der«
selben höheren Duelle ab, uno die, welche als
Lrhnträger Gottes richteten, waren dabei von
der Ueberzeugung geleitet, daß sie selbst an
jenem Tagt» der Erfüllung aller Geschichte vor
dem Stuhle des Allerhöchsten ihr Schwert nie»
derlegen würden, um über die Verwaltung
ihres Nichteramtes gerichtet zu werden. Gegen
diese alte historische Ansicht, nachdem sie in
den neueren Jahrhunderten durch die dem
Interesse der Monarchen selbst so schädlichen
Lehren absoluter Herrschaft virlfach untergra'
ben wurde, hat sich in den neuesten Zeiten
ein Kampf erhoben, der die Welt fast schon
ein halbes Jahrhundert in ihren Grundvesten
erschüttert. Der Geist, der diesen Kampf her»
vorgerufen, aller organischen historischen Ent»
Wickelung fremd, reißt den Menschen von Gott
los und alle Fäden der Vergangenheit, so im
Glauben wie im Recht, gewaltsam zerschnei-
dend. stellt er ihn isolirt auf sich selbst und
läßt ihn so aus sich heraus seinen Staat und
seine häusliche Lebensordnung construiren, um
das größtmögliche Maß materieller irdischer
Glückseligkeit zu erreichen. Er will nicht die
menschliche Freiheit durch das göttliche Recht
heiligen, es ist virlmehr die menschliche Will»
kür, die das göttliche Recht zu vernichten
trachtet, um einen absoluten Vernunftstaat zu
gründen, worin die Willkür entweder oben
als Despotismus oDer unten als Revolution
gebietet." Diese Ansicht über die geschichtliche
Entwickelung der staatlichen Verhältnisse und
über die innigen Beziehungen zwischen Fürst
und Volk sind es. die L. in seinem Werke
durchführt. Dasselbe hat von einer Seite großen Beifall, von anderer Seite vielfach
Anfechtungen erfahren. Menzel nennt es
„ein in vielen Beziehungen merkwürdiges
Werk, nicht nur, weil es die erlauchte Litera»
tur bereichert, sondern weil es der Anlage
nach ein neues Muster für Specialgefchichte
aufstellt". „Wir legen", schreibt Menzel,
„keinen Werth auf politische Theorien, die sich
mit dem Meridian verändern. Doch finden
wir es nicht unmerkwürdia, daß der Fürst
Lichnowsky, wenn auch von anderem
Standpunkte aus. die Politik des Hauses
Habsburg genau so präoicirt, wie der selige
Schneller. Uns will es aber scheinen, daß
man der Geschichte ein wenig Gewalt anthut,
wenn man ihre mannigfaltigen Grscheinun«
gen einander ähnlich machen will, wo sie es
keineswegs sind. Wenn Fürst 3. in der Vor»
rede festzustellen sucht, daß das Haus Habs«
bürg daS historische Princip vertrete und
von jeher vertreten habe, so stimmt das
doch keineswegs mit der wirklichen Geschichte
durchaus überein. AlsRudolph von Habs«
bürg auftrat, war der Ghibelliliismus ^ die
alte Kaifermacht das historische, der Wuelfis-
mus dagegen, die vom Papst geleitete Rebel-
lion der Rcichsfürsten gegen ihr Oderhaupt
und die Unterordnung dieses Oberhauptes
unter die Willkür der Fürstenaristokratie war
das revolutionäre Princip jener Zeit. Wollte
aber Fürst 3. einwenden, Gott sei älter als
der Kaiser und insoferne den Papismus als
das historische Princip zu behaupten, so
können wir nicht umhin, ihn auf die spätere
Zcit zu verweisen, in welcher H abs bürg,
im Erbbesitz der Kaiserwürde, unwillkürlich
ghibellinisch werden mußte. Es wäre sehr kurz«
sichtig, wenn man die ghibellmische Reaction
gegen das Papstthum, die allerdings erst
unter Joseph I I . energisch und offen her-
vortrat, in früheren Perioden verkennen
wollte. Was hatte nicht M a r i . . Kar l V..
Max imi l ian I I . , selbst Ferdinand I I .
und Leopold I.. Joseph I. und Kar l VI.
mit dem päpstlichen Stuhle beständig zu
schaffen, wenn auch meistens nur geheim.
Wie oft, ja fast immer, stand der Papst
im geheimen Bunde mit Frankreich (und ist
es heute anders?!), so oft dieses den Kaiser
anfiel. Wir wollen nicht noch weiter unter»
suchen, schließt Menzel sein Urtheil, in
wie fern etwa die großen inneren Umgestal-
staltungen in verschiedenen Provinzen des
österreichischen Kaiserstaates, welche radicale
Ausrottungen des althistorischen waren, an
Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
Leon-Lomeni, Volume 15
- Title
- Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
- Subtitle
- Leon-Lomeni
- Volume
- 15
- Author
- Constant von Wurzbach
- Publisher
- Verlag der Universitäts-Buchdruckerei von L. C. Zamarski
- Location
- Wien
- Date
- 1866
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 13.41 x 21.45 cm
- Pages
- 499
- Keywords
- Biographien, Lebensskizzen
- Categories
- Lexika Wurzbach-Lexikon