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Die Wunder des Lebens
Die graue Nebelfahne hatte sich tief über Antwerpen gesenkt und hüllte die
Stadt ganz in ihr dichtes, drückendes Tuch. Die Häuser verflossen bald in
einem feinen Rauch, und die Straßen führten ins Ungewisse: über ihnen aber
ging wie ein Wort Gottes aus den Wolken ein dröhnendes Klingen und ein
surrender Ruf, denn die Kirchtürme, aus denen die Glocken mit gedämpfter
Stimme klagten und baten, waren zerronnen in diesem großen wilden
Nebelmeer, das Stadt wie Land erfüllte und ferne im Hafen die unruhigen,
leise grollenden Fluten des Ozeans umschlang. Hie und da kämpfte ein matter
Lichtschein mit dem feuchten Rauche und suchte ein grelles Schild zu
beleuchten, aber nur das verschwommene Lärmen und Lachen harter Kehlen
verriet die Schenke, in der sich die Frierenden und die des Wetters Unlustigen
zusammengefunden hatten. Die Gassen waren leer, und wenn Gestalten
vorbeikamen, so war es nur wie ein flüchtiger Streif, der rasch in Nebel
zerrann. Trostlos und müde war dieser Sonntagmorgen.
Nur die Glocken riefen und riefen ohne Unterlaß, wie verzweifelt, daß der
Nebel ihren Schrei erstickte. Denn die Andächtigen waren spärlich; die
fremde Ketzerei hatte Fuß gefaßt im Lande, und wer nicht abtrünnig
geworden, war lässiger und matter im Dienst des Herrn, so daß eine
morgendliche Nebelwolke genügte, um viele ihrer Pflicht zu entfremden.
Alte, verhutzelte Frauen, die ihre Rosenkränze emsig surrten, arme Leute in
schlichtem Sonntagsgewand standen wie verloren in den tiefen dunklen
Hallen der Kirche, aus denen das schimmernde Gold der Altäre und Kapellen
und das leuchtende Meßgewand wie eine milde und sanfte Flamme
entgegenstrahlte. Wie durchgesickert durch die hohen Wände war der Nebel,
denn auch hier wohnte die traurig-fröstelnde Stimmung der verlassenen,
versponnenen Straßen. Und kalt, herbe, ohne den sonnigen Strahl war auch
die Morgenpredigt: sie galt den Protestanten und war von wildem Zorn
getragen, in dem sich Haß mit starkem Kraftbewußtsein vermählte, denn die
Zeiten der Milde schienen vorbei, und von Spanien her kam den Klerikern die
frohe Kunde, daß der neue König mit lobenswerter Strenge dem Werk der
Kirche diene. Und mit den schildernden Drohungen des letzten Gerichtes
vereinten sich dunkle Worte der Mahnung für die nächste Zeit, die vielleicht
unter einer zahlreichen Hörerschar durch das raunende Gestühle
weitergerauscht wären, so aber, in der dunklen Leere dröhnend und hohl zu
Boden fielen, wie erfroren in der naßkalten schauernden Luft.
Während der Predigt waren zwei Männer rasch beim Hauptportal
eingetreten, für den ersten Augenblick unkenntlich durch den hoch
aufgeschlagenen hüllenden Mantel und das tief ins Antlitz verstürmte Haar.
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Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik