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Mit den Mitteln der Disziplin
teilungen von den Sammlungen Britanniens.4 Fast immer sind Angaben zu Kollegen,
Institutionen, Kunstwerken oder sonstigen gesellschaftlichen Ereignissen derart prä-
zise, dass sie sich in anderen Quellen exakt wiederfinden. Auch das Atmosphärische
scheint authentisch eingefangen, und sie lässt das vergnügliche oder verdrießliche
Nebenher nie aus den Augen. Neben den ausgiebigen kunsthistorischen Besuchsritu-
alen dienen die Reisen auch der Aufmunterung („Die Abwechslung gerade in diesen
atmosphär[ischen] Dingen ist es, die d. Reisen so wohltuend macht“). Carl Justis Rei-
sebriefe aus Spanien hatten z. B. ebenfalls memorierenden Charakter. Doch muss der
von Erica Tietze-Conrat imaginierte Leser anspruchsvoller gewesen sein als Justis
Schwester und Mutter, den Adressaten seiner recht banalen Briefe.5
Wenn also die eigentlichen Arbeitsmaterialien nicht mit den Tagebuchnotizen
übereinstimmen, so stellt sich – wie schon in Band I – die Frage nach dem eigent-
lichen Zweck der Aufzeichnungen. Und wieder kommt man über Mutmaßungen
nicht hinaus. Mindestens ein Leser von Erica Tietze-Conrats Tagebüchern ist ge-
sichert. Hans Tietze, Weggefährte bei allen Unternehmungen, wird unmittelbar an-
gesprochen („Wirst du das Tagebuch lesen u. d. Brief hin an dich finden ?“). Durch
Hans Tietze als autoritative Instanz erhält das Tagebuch einen offiziösen Charakter
(„Bevor ichs niederschreibe, will ichs aber erst d. Hans erzählen“). Der Vollständig-
keit halber ist er sogar angehalten, seine allein unternommenen Besichtigungen in
ihrem Tagebuch festzuhalten. Erica Tietze-Conrat lässt den Leser wissen, dass Or-
ganisation und praktische Abwicklung dieses Mammutprogramms Hans zu danken
seien („… ein einmal vorgenommenes Wochenprogramm tatsächlich zu erledigen, ist
Hans’ Werk u. daß ich nicht ausspringe, seine Energieübertragung. Ich wäre längst ir-
gendwohin abgeschweift, wenn ich allein gewesen wäre“). Am Ende der ersten Reise
bestätigt er schließlich auch die Wahrhaftigkeit ihrer Aufzeichnungen („Ich bestätige
den richtigen Inhalt dieses Tagebuchs“). Dabei meint man gar eine leise Gekränkt-
heit zu vermerken, als ob er geahnt hätte, dass ein späterer Leser seine Rolle in dem
ganzen Unternehmen gering schätzen könnte.
Bei dem von Erica Tietze-Conrat vielleicht imaginierten Leser handelt es sich
offenbar nicht notwendigerweise um einen Kunsthistoriker, denn sie fürchtet, zu „in-
siderisch“ zu werden („Ich werde zu kunsthistorisch, wie ich es in diesem Tagebuch
doch nicht sein wollte“). Und wenn nicht Kunsthistoriker, was sonst ? Vielleicht liegt
in der Tatsache, dass sich die „Bücheln“ im Nachlass ihres Sohnes Andreas („Anderl“)
befunden haben, auch bereits die Antwort auf die Frage nach dem intendierten Leser.
Die Aufzeichnungen gehörten ihren Kindern, sogar mehr noch den Enkelkindern
oder, vielleicht abstrakter, einer nachfolgenden Jugend, die auf diese Weise etwas von
ihrer Begeisterung an der Arbeit, ihrer Weltläufigkeit und einem „trotz allem“ ge-
glückten Leben erfahren würde.
Mit ihrem 2008 herausgebrachten Sammelband stellt Almut Krapf-Weiler die
Kunsthistorikerin als Spezialistin für barocke Skulptur und feinsinnige Rezensentin
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Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien