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Tagebuch 1937/1
des Bernh[ard] Altmann als Mittelstück sieht, so ist es noch widerlicher. Als ich dem
Stix sagte, wie schlecht ich das Bild finde, wurde er so grob mit mir (nannte mich ein-
gebildet u. s. w.), daß es sich mir wie eine dunkle Wolke über die Stimmung d. Tages
legte. Wenn jemand gegen mich grob wird, bin ich wie gelähmt. Und jetzt verstehe
ich es doch wieder : Stix, der Mop[p] walten läßt u. sich als den österr[eichischen]
K[ün]stler propagieren läßt, hat natürl[ich] ein schlechtes Gewissen, weil es doch über
d. Kopf d. Haberditzl geschieht, d. eben kein Kopf sein kann, da sein Körper gelähmt
ist ! Natürlich mußte ihn meine Kritik darum doppelt reizen
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Wir gingen mit Floch dejeunieren und das war auch keine Aufheiterung. Zum
Kunsthändler Gobin, der krank war, sein „junger Mann“ Ströhlin war nicht da ; Be-
sorgungen ; nachhause. Ausruhen. Abends im Athénée, École des femmes von Mo-
lière, mit Jouvet, Inszenierung von Bérard (Freikarten). Entzückend, geistvoll u. tief ;
der reinste Genuß. Und wie klug ist es doch vor Beginn ein Avant le Rideau zu
spielen ! Welch ein weiser Verzicht in solch einem Stück liegt, das sich ohne Rancune
bescheidet, nichts sein will als Lockerung, Appetit-machen. Die Weisheit des Hors
d’œuvre, das wir verfressene kulturlose Östler auch nicht richtig zu handhaben wissen,
sondern immer so viel davon vertilgen, das uns d. Appetit für nachher vergangen ist.
Bei uns würde man wahrscheinlich ein Avant le Rideau bei Nietzsche bestellen
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Am nächsten Tag – das war gestern – ist alles unter d. Zeichen d. 1. Mai gestan-
den. Hätten wir z. B. wenn es nicht d. 1.V. gewesen wäre, Tischler in Auteuil aufge-
sucht ? So haben wir sogar mit ihm dejeuniert, und das in jenem Keller, der heute
abends die österr[eichische] Künstlerbund-Kneipe sein soll. Anwesend war noch eine
Strzyg[owski] Schülerin Hahndl die hier jetzt Kunst treibt, der Linzer Maler Kleo-
phas Bogailei (ehemals Reischl), ein Pfiffikus, der genau weiß, warum er sich seine
kindliche Seele bewahren soll, ein Maler Goebel u. seine Freundin Freist. Sie sollten
dann das Lokal für den „Empfang“ künstlerisch ausgestalten.
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Wir gingen am Nachmittag zu Mme Bertrand, die so entzückend wohnt u. überall
noch ein Haucherl Anderl in d. Räumen hängen hat. Linette war da, unverändert,
fast erschreckend unverändert. Und nicht mehr 17 sondern 22. David kam auf einen
Augenblick, er hatte „Reportage“ photographiert u. mußte wegstürzen, Rendez-vous
eines „Lagers“ draußen, weekend. Dann Vater Eisenschitz, der viel mehr Künstler,
Wiener u. Franzose als Vater ist. Wir fuhren dann in seinem alten Kasten, eigentlich
kaum mehr ein Chassis, in sein Atelier. Sympathische Bilder wie d. Mensch selbst.
Nachtmahl am B[oulevar]d S. Michel (Steinbach), wohin auch Floch kam. Tiptop
angezogen, in seiner Eigenschaft als Président von einem Empfang irgendwo, wo
Pernter drei jüdische französ[ische] Minister anstrudeln musste. Abschluss in einem
Cinemac (d. h. Cinéma Actualités), wo für mich d. Hauptnummer eine Reportage
über Father Divine war. Wir haben alle Typen wiedererkannt, es ist nicht wahr, daß
„man ist schwarz u. damit gut“ ist. Lang in d. Sonntag geschlafen.29
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien