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Tagebuch 1937/1
6. Mai
Lille. Die Fahrt her im herrlichen Abteil (vom Hans mit Zunge-heraus in dem vollen
Zug Paris–Amiens etc. erobert), nur daß gelegentlich einer für eine Station mitgefah-
ren ist – natürlich weiterrauchend – obwohl es doch Raucherwagen gesondert gibt !
Ich frage mich (u. Hans), ob ich mich mehr über d. Rauch ärgere als über d. Übertre-
tung. In Lille hat mich Hans an einer nahen Straßenecke als Eckstein eingepflanzt
u. ist, leicht beschwingt, ein Hôtel suchen gegangen. Minerva. Hat alle Vorteile
u. Nachteile d. französ[ischen] Hôtels gehabt. Zu ersterem rechne ich die famosen
Waschgelegenheiten, zu letzterem das „breite Bett“. Ich nenne es das Rücksichtbett ;
man schläft ganz dünn, aus lauter Rücksichtnahme ; lässt sich nicht aus
…
Wir haben auf dem elenden Pflaster, das schon an die nahen Pays Bas gemahnt,
einen langen Abendspaziergang gemacht, dann trefflich diniert (so billig wie in Pa-
ris kann man leider in d. Provinz nicht essen), alle Cinémas u. Cinémacs von außen
besichtigt u. sind dann zu bett gegangen. Heute ist leider ein Feiertag, sodaß wir im
Museum nicht fertig werden können. Die Zettel versprechen einiges
…
(Was für vorzügliche Croissants gibt es hier !). (Abends) Wir haben den ganzen
Vormittag u. Nachmittag im Museum zugebracht. Besonders interessant Bilder u.
Zeichnungen, aus denen Prestel gleich mehrere Mappen wählen könnte. Prachtvolle
Raffaelzeichnungen, Fra Bart[olommeo], Dürer ! Altdorfer, Beham (2, wenns stimmt)
Sogliani, Franzosen, Rosso, mir fällt nicht alles ein. 100e Blätter. Der Konservator
war nicht da, sein Sekretär, der immer durch d. Nase (wie Wald[emar] Georges) d.
Luft knipste, hätte uns ganz gern photogr[aphieren] lassen, aber wir habens doch
lieber auf morgen verschoben, wenn jemand da wäre, der d. Z[eichnung]en aus dem
Rahmen nehmen kann. So haben wir auch politisiert u. Erinnerungen aus d. Zeit d.
Besatzung angehört, die von 1914–18 dauerte. Am schlimmsten war er auf Vanadelle
zu sprechen, was Hans, sehr klug, als Hudeln* identifizierte. Der hat (als Kunstoffi-
zier) einfach kommandiert, als ob d. Museum u. sein Staff ihm gehörte. Die anderen
(Feulner) sind in besserer Erinnerung. Als d. Museum erledigt war, gingen wir ins
Kino. Da ich gerne vorne sitze teils dieserhalb teils außerdem nahm Hans in d. 5.
Reihe Karten. Herrliche Fauteuils, in denen meine müden Museumsfüße gut rasten
konnten. Alle Reihen vor uns und buchstäblich 10 Reihen hinter uns waren alle
Fauteuils frei, die Leute drängten sich dann, ebenso auf dem Balkon
– denn hier sind
die vorderen Sitze die teureren, ganz umgekehrt, wie es bei uns ist. Da unsere Sitze
überdies in der Mitte waren, fühlten wir uns in unserer Isolierung erschreckend im
Mittelpunkt d. großen u. vornehm belichteten Theaters ; Hans zog die Handschuhe
an. Die Filme waren französisch (d. h. der erste L’enfant de la forêt ein synchroni-
sierter amerikanischer) u. z[war] d. zweite Ménilmontant mit Signoret u. Larquey in
d. männlichen Hauptrollen und Mlle Therese Dorny, d. Freundin Segonzacs in der
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien