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Tagebuch 1937/1
weiblichen. Sie spielt sehr komisch u. sehr herzlich, eine famose Charakterschau-
spielerin u. sieht genau so aus, wie er sie radiert hat. Ich hatte sie gleich erkannt, ob-
wohl sie in einem pariserisch-chicen Sommerkleid in d. Armbrustergasse natürlich
nicht ihre anderen Qualitäten d. komischen Alten zeigen konnte. Der Film ist kurz
vor unserer Abreise in Wien gegeben worden u. das hat mich natürlich bisserl ge-
kränkt : ich hätte gern etwas weniger Pariserisches hier gesehen, aber von Lille lässt
es sich wohl nicht erwarten. Wir haben beide Sacktücher voll geweint. Es hat von 5
bis ¼ 9 gedauert !37
Nach d. Nachtmahl gingen wir noch in ein Zeitungsreklamehaus im Vorüber-
gehen, wo eine Art Kermesser Greuz und ähnl[iche] Späße aufgestellt waren. Alles
drängte sich herum, contemplant was man nicht alles gewinnen könnte, ohne daß
auch ein einziger die paar Franken gewagt hätte hineinzuschmeißen.
–
Die Städte hier sind nicht eindrucksvoll. Von Amiens weiß ich die Kathedrale
auf ihrem stillen Platz ; vom Museum kaum mehr als das merkwürdige Riesenbild
von ich weiß nicht wem : eine Dienerin führt, […], eine nackte Reiterin durch eine
schmale Straße, die als Hochbild unendlich viele Fenster in d. Häuserfronten zeigt.
Thema : ein Graf verlangte zu viel Steuern ; Godiva seine Gattin wollte für d. Armen
Erleichterungen vermitteln. „Nur wenn du nackt wie du aus dem Mutterleib gekom-
men, durch die Straßen reitest“, sagte der Gatte
– u. bereute sogleich. Godiva tat es, er
aber drohte Todesstrafe, wenn auch nur einer es wagte ans Fenster zu treten u. sie an-
zuschauen. Nun ist das taktvoller Weise kein Thema, das man malen darf. Sind doch
wir, die wir schauen, der Todesstrafe verfallen. Man denke sich das seelische Dilemma
des Beschauers aus, dessen Blick aus jedem Stiegenhaus, in jedem Saal geschickt ge-
rade nach diesem Riesenbild, einem umgekehrten Christophorus an d. Kirchenfas-
sade, geführt wird !
…38
Von Lille weiß ich nur die großen Plätze u. langen breiten Straßen u. Avenuen.
Auf der Grande Place das schwarze Haus voll mit Skulpturen. Man ist schon in Bel-
gien
…39
7. Mai
sind in Hazebrouck, wo wir von Bergues nach Lille umsteigen mußten. Es feuch-
telt. Ganz flach, gelegentlich eine Pappel, die hier sicher – wie dann in Holland –
ein Maskulinum ist und – noch gelegentlich – ein Windrad. Bergues liegt hinter
uns. Eine Stadt, der ihr altes Kleid zu vornehm geworden ist. Alte Tore mit Auf-
zugbrücken, ein Beffroy, in dem das naturhistor[ische] Mus[eum] untergebracht ist,
eine Mairie aus dem späten XVIIen in d. d. Kunstmus[eum] ist. Wir haben ein paar
Dutzend ausgestellte Zeichnungen (darunter ein sehr lebendiges Blatt von Thul-
den mit der üblichen Allegorie des Kaminbildes u. allen Aufschriften) und 1300 in
Mappen eingestaubte gesehen. Kaum etwas ganz besonderes, soweit wir blättern
konnten, jedenfalls nichts was uns anging. In Erinnerung blieb mir eine sehr große
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien