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Tagebuch 1937/1
ten (Er verehrte seine Dissertation über Just[us] v. Gent). Abends waren wir im Kino
Avez-vous quelquechose à déclarer ? mit Raimu der (allein) gut spielte. Da wir in der 2.
Hälfte des Stückes hineinkamen, war es ganz amüsant, festen Boden unter d. Füße zu
bekommen. Heute ist es quälend schwül. In d. Früh kam eine Absage von Prof. Dela-
ere aus Gent, daß er keine venez[ianischen] Z[eichnung]en besitze, dazu ein Seperatum
über Rubensskizzen als Hommage. Der zweite für heute in Aussicht genommene, von
Van Puyvelde genannte Sammler Monsieur de Ramaix hat auch nicht reagiert, scheint
also verreist zu sein. Wir fuhren ins Cinquantenaire Museum, das sich aber größer
als inhaltsreich erwies. Zuerst zurück, immer langsamer schlendernd, weil d. Luft so
drückte. Zuhaus aus d. Papierl gegessen ; geschlafen – mit schlechtem Gewissen, wie
wird es dann in d. Nacht damit gehen ? ! Eine herzliche Karte von Burgs, die uns er-
warten. Wir sagen uns in Anvers, Plantin-Mus[eum] und in R’dam an.47
13. [Mai]
Den Nachmittag hab ich im Garten gesessen, während Hans die Dame, die bei Fix-
leins in Exchange sein soll, besucht hat. Nach d. Nachtmahl (wie immer bei Novada,
Rue Neuve) Kino Mlle le Docteur (ein Spionagefilm, von Pabst gedreht, Jouvet –
sehr gut – in einer Nebenrolle). Erst haben wir sehr wenig verstanden, dann nur ich.
Ein sehr instruktiver u. beglückender Vorfilm über d. Glasfabrikat. Dann der gest-
rige Tag (Mittwoch), an dem ich gar nicht zum Schreiben kam. Rendezvous bei den
Z[eichnung]en de Grez mit Goldschmidt, das sog[enannte] Skizzenbuch von Patinir,
wohl später, nur eine Bildkopie nach Bild Patinirs an d. Namen Schuld. Auch Kopien
nach anderen – noch primitiveren – Bildern, eine nach einer italienischen mit Erin-
nerungen an Crivelli (Putto von hinten) ; ganze Serie von ordentlich nebeneinander
gesetzten Felsdetailstudien, als ob Z[eichnung]en Dürers als Vorbilder gedient hätten.
Noch einen Gang durchs Museum, wo – zu Ehren d. englischen Krönung ! – um 12
die Sonne angenehm aufschien. Gerade über Bouts.48
Dann zu Dr. Ernst Goldschmidts Onkel u. Tante, er als Jude mit Geld dreimal
so konservat[iv] als nötig, sie als geborene Russin in der gleichen Situation, aber
harmlos u. liebenswürdig ; ein netter Sohn, Advokat. Zus war auch da, Augenbrauen
herausgerissen, aber dann ungenügend nachgezogen. Tisch und Stühle unter einem
heranschleichenden Diener u. geschriebenes Menü. Gespräche über führende u.
mitlaufende Habsburger. Also sehr haute volée. (So lebt man immer ein Doppelle-
ben
– Burgl !). Nach dem Kaffee mit Mutter u. Sohn, der chauffierte, ins Haus Stoclet.
Das war die allergrößte Überraschung. Das Haus steht jetzt seit z[irka] 30 Jahren da,
von oben bis unten, von außen u. innen Hoffmanns Werk. Kein Nagel, dessen Form
er nicht entworfen hat, kein Entwurf, den nicht die Wiener Werkstätte ausgeführt
hat. Und alles so wundervoll gearbeitet, daß es heute noch absolut intakt ist. Am
eindrucksvollsten ist d. Mosaikdekoration im Speisesaal nach Klimts Zeichnungen ;
edelstes Mosaik, ganz im Materialgeist erfunden u. edelster Klimt zugleich. Irgendwo
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien