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Tagebuch 1937/1
Heute hatten wir einen richtigen „Sightseeing“ Tag, d. h. gar nichts, was uns
unmittelbar angeht, aber doch so viel Anregung u. Vertiefung, sowohl im Plan tin-
mus[eum] wie auch im Großen. Im Plantinmuseum Anknüpfungen an Dürer (Pa-
radiesvogelbalz, Erlangen) u. Prinzipielles über Graphikvorlagenzeichnungen, die
wirklich (wie wir immer annahmen) seit d. Mitte d. 16 Jhs. (u. etwas früher schon) d.
Schattenberge laviert haben u. nichts mehr graphisch geschrafft. Im Museum haben
wir ein (200) Bilderbuch erworben, in dem viele M[arten] d[e] Vos drin sind, die uns
wegen d. Zusam[men]hang mit Venedig interessieren. Wir blieben bis ½ 3 im Mu-
seum, wo wir während einiger Gewitter (Rembrandtsaal) fast im Dunkeln tappten,
dann aber wieder durchs herrlichste Licht belohnt wurden. Jetzt verlassen wir Ant-
werpen u. Belgien, fahren nach R’dam hinüber
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14. [Mai]
Gestern abends unsere vierte Grenze war wiederum recht ungewöhnlich. Ein Zug
brachte uns von Antwerpen nach Essen, wo alles aussteigen musste, um genau vis-
à-vis einen eigenen Zug nach Rosendaal – also durch das Niemandsland ! – zu neh-
men ; dort wiederum aussteigen und overstappen in noch einen Zug, der uns endlich
nach R’dam geführt hat. Die Geleise entlang Wiesen mit weiß-schwarzen Kühen,
bei dreien jedes Mal ein ausgelassenes Rößlein ; Felder entlang mit Riesenquadraten
oder Streifen mittendrin, auf denen die Tulpen standen. Eigentlich ein phantastischer
Eindruck dieses Luxusgemüses, richtig da um ein koloristisch begabtes Malervolk zu
erziehen. Endlich über hochgeführte Dämme zwischen Wasser gefahren, breit endlos
wie ein Meer, die Mündung, d. h. d. Zusammenfluss von Maas u. Schelde. In R’dam
übernahm uns ein alter Hôtelportier, der natürlich alle unsere Entschlüsse zu „Coo-
mans“ zu gehen auf d. Basis von 25 ct Ersparnis umstieß (auch „Coomans“ beruhte
nur auf der Empfehlung eines Mitreisenden, der nicht einmal sehr empfehlend aus-
sah). Wir fuhren mit d. Tram und bei jeder Station trat d. Portier aus dem anderen
Abteil zu uns herein, um uns in d. Topographie einzuführen. Bei der ersten Station
war d. Hauptpostgebäude ; wo wir ausstiegen, war d. Spital an der […], so daß wir d.
Gefühl d. Beruhigung bis zum letzten Ausmaß haben konnten (Mus[eum] ? und d.
Leichenhalle ?). Und dann haben wir in unserem Zimmer aus dem Papierl gegessen,
letztes aus d. billigen Lande (Belgien) Mitgebrachtes u. in einem Café, das wie ein
Clubraum (angenehm) wirkte in tiefen Lederfauteuils Bier getrunken. (Bei mir hat
aber eine große Dosis Schlafmittel nachhelfen müssen.) Und heute früh – o dieses
Frühstück ! das erste holländische Frühstück ! Das kann man nicht beschreiben, das
muss man erleben.
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15. [Mai]
(Mittagspause A’dam) Der gestrige Tag bei den Z[eichnung]en von Koenigs in R’dam
verlief ohne Mittagspause. Wir haben fast sieben Stunden ruhig u. genußreich ge-
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien