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Tagebuch 1937/2
nur wir alleine) reagierten darauf, indem wir kein Trinkgeld gaben. Wir haben im
ersten Anhieb das Quattrocento durchgearbeitet. (Es ist der weitaus knappere Teil für
uns). Mehreres haben wir überhaupt nicht gekannt, manches noch nicht abgebildet
gesehen. Wir haben d. Vertrauen, das wir hier gut zuende kommen werden.
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26. [Mai]
(gestern nicht zum Schreiben gekommen) Es war ein guter u. arbeits-gefüllter Tag.
Gute Nachricht von zuhause ; ein Brief von Anderl, der sein Philosophicum erledigt
hat u. erfreuliches von jedem einzelnen mitteilt (von Burgl, daß sie d. Advokaten eine
Vollmacht gegeben habe). Den ganzen Tag im Printroom, fernere Sammlungen, ein-
leitende Gespräche mit Popham, die Einzelkünstler des 16. bis Michelangelo ! Innere
sehr aufschlussreiche Auseinandersetzung über Tizian-Campagnola. Über d. lunch,
den wir diesmal in einer Art Milchgeschäft nahmen, ist nichts näheres zu berichten.
Ein Pflichtakt nur. Die Hitze war nahezu unerträglich. Am Nachhauseweg in Bond
Street ausgestiegen, wo wir auf Stratford Place im dritten Stock oben in einer drei-
Zimmeratelierwohnung Dr. Walther Gernsheim, Old Master Drawings, aufsuchten.
Eine prachtvolle Ausstellung Bologneser (Carracci u. Nachfolge), z[um] T[eil] mit gro-
ßen (auch von ihm selbst gemachten) Photos nach berühmten Beispielen ergänzt. Er
war ganz gerührt, daß Hans – der erste Carracciforscher – bei ihm eintrat. Wir haben
den „Raub d. Europa“ aus d. Oppenheim S[amm]l[un]g (dort unverständlicherweise
als Veronese) hier als Annibale Carracci wiedergefunden (Entw[urf] f. d. Fava-Fresko)
u. eine herrliche Z[eichnung] von Guercino, die ein Theater mit Zuschauern (im Freien)
darstellte. Wir haben auch d. Mann selbst angestaunt, ein Burscherl schmächtig u. pro-
nonciert schwarz, das sofort nach seinem Doktorat (München) hierher kam u. in die-
sen 3 Jahren d. Lebenskampf führt. Ein doppelter Kampf : ums Leben selbst und um
sein Leben, denn in diesem Erwerbskampf möchte er sich doch auch d. Anspruch nach
wissenschaftl[icher] Einstellung bewahren. Was für Kräfte d. Judentums hat dieser Hit-
ler doch wiedergeweckt ! Die letzte Rettung war er vor dem Sattwerden ! Wahrlich ein
umgekehrter Moses, der die verägypterten wieder tatkräftig machte
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Nach d. Dinner gingen wir – d. h. fuhren wir 2 Stationen mit unserer abonnierten
Underground zu Wares. Der Empfang war so herzig : Alice die Getreue war zwar
nicht mehr da, sie hat geheiratet u. d. Hund mitgenommen. Mrs. Ware ist noch etwas
runder geworden u. ihrer Mutter ähnlicher u. sehr glücklich mit ihren Enkelkindern,
die sie in Photos herzeigte : zwei Mädeln von Anne u. einen Buben (ihr pet) von
Emily. Pamela die Spröde, hat mich umarmt u. dann auch Hans, was wir alle sehr
rührend fanden. Sie sieht recht unverändert aus, so ein armes Geschöpf, das so viel
Mut braucht, um sich fit zu halten. Jetzt noch dazu mit d. so fraulich prosperierenden
Schwestern
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In der Nacht gab es 3 Gewitter mit Platzregen. Hans schloss unser Tür-Fenster, da
merkte man erst, wie tief unten unser Zimmer liegt. Heut ist es wieder schön.
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien