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Tagebuch 1937/2
27. [Mai]
Wir bekommen beide (Gott sei Dank zu verschiedenen Stunden, so daß der eine d.
anderen immer noch trösten kann) Angst, daß uns d. Arbeit über d. Kopf zusammen-
schlägt. Im Printroom ginge alles ganz gut weiter, wenn Popham nicht einen Extra-
band Palma G[iovane]-Zeichnungen heraufgebracht hätte ! Und wir wissen, was das
bedeutet ! Beim Zahnarzt Rudolph, auf dessen Veronese-Zeichn[ungen] alleine wir
aus O[ld] M[aster] D[rawings] vorbereitet waren, fanden wir so unendlich viel, daß
wir zwei Stunden u. mehr sogar blieben. Es war nur gut, daß wir uns zu einem ver-
späteten kalten Dinner zuhause angesagt hatten ! Der hagere große Mann sammelt
erst seit ein paar Jahren. Es fiel ihm plötzlich in einer Z[eichnung]enausstellung ein
u. er ging zu ganz kleinen Händlern, kauft drauf los, hatte Glück – und sein Hobby
gefunden ! Er hat vorzüglich montiert, nach Schulen u. Alphabeten geordnet einen
ganzen Kasten voll. Kauft auch d. Literatur dazu u. findet schon gelegentlich rich-
tige „Zusammenhänge“. Erstaunlich ist es, wie schnell einer, dem Geld eine Rolle
spielt, versäumte Schulung nachholen kann u. wie doch andererseits erschreckende
Lücken bleiben – wie sie schließlich aber auch die sog. Kenner haben, wenn es sich
um Selbstentdecktes handelt. Er hat uns von Anny E. Popp erzählt, daß sie mit Blät-
tern bei ihm war, die sie ihm um lächerlich hohe Preise anhängen wollte. Sehr traurig.
Nach Nacht- u. Taggewittern gröbster Sorte (die wir aber sämtlich versäumten) herr-
lich entspannt.16
28. [Mai]
Meine Tagesbeschreibungen werden immer kürzer
– ein Zeichen, daß die Arbeit sich
immer konzentrischer abspielen kann. Der gestrige Tag war wieder fast ausschließ-
lich d. Printroom gewidmet und zwei angestrengte Stunden davon d. Palmaband, der
viel einheitlicher – u. darum langweiliger – ist als die beiden Münchner. Sonst sind
wir bis in den Tintoretto vorgedrungen. Kurze Begrüßung mit Dodgson, der noch
schwerhöriger geworden ist ; weitere Sammlungsangelegenheiten einleitende Gesprä-
che mit Popham (vor allem Rayner-Wood). Mittags holte uns Frau Tarnay zum lunch
ab, sie kam gleich nach Erhalt meiner Karte, begierig von Cis etwas zu hören. Das
ist wohl d. ärmste Mensch, den man sich denken kann ! So furchtbar herunterge-
kommen. Eine Frau gerade in dem gefährlichen Alter, in dem man um seine Jugend
noch kämpfen möchte und nicht einmal imstande, etwas für die Fassade ihrer Zähne
zu tun. Ihr Elend ist so fühlbar, daß einem das Zusammensein mit ihr peinlich wird.
Und das ist dann natürlich das Letzte
…17
Am Nachhausweg sind wir von Bond Street nach Marble Arch zu fuß gegangen,
haben aber nur den Mut aufgebracht zu Wildenstein hineinzuschauen (der nur eine
Constable Ausstell[ung] hatte u. nichts, was uns anging) und ein wenig weicheres
Erdreich im Hyde Park unter unsere müden Füße gelegt. Während des Dinners Ra-
dio : Zauberflöte, von Busch dirigiert, in deutscher Sprache gesungen. Direkte Über-
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien