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Tagebuch 1937/2
Hall bei dem berühmten Volkskomiker mit d. roten Nase gewesen u. daß sie heute
Nachmittag mit ihrer Mutter im Kino war u. gerade nachhause gekommen. Die
Mutter – Tochter der Schweroperierten – trat dann ins Zimmer in Gold u. türkisfar-
benem Samt gekleidet, soweit d. Busen frei blieb mit ebensolchen Emailschmuck be-
hangen, nacktarmige Venus im siebenten Jahrzehnt ! Wir hatten das Dinner u. schon
mußte sie fort zu einer Bridgepartie. Ich bügelte meine teilnehmenden Falten wieder
aus
…
Hans holte mich ab und wir fuhren bei einem einsetzenden Regen heim. Da ich
meinen Abendmantel hatte, der schrumpelt, wenn er nur Regen im Radio angekün-
digt hört, war ich sehr grimmig. Es folgte ein Wolkenbruch mit Donner u. Blitz –
aber da waren wir schon zuhaus. Und gestern dann das graueste Wetter. Es ist richtig
kalt und bei Pamela war u. gerade jetzt neben mir ist es im Kamin geheizt. Das sieht
sehr nett aus, aber macht keinen Unterschied, ich habe mein winterliches Wollkleid
nicht ausziehen müssen
…
Wir waren in d. Früh einen Sprung bei Burgs, denen wir das „Michelangelo“-
Relief zeigten, sie waren gleichfalls sehr intrigiert. Dann haben wir im Printroom
gearbeitet, vormittags mit Photographien gemischt, nachmittag nur bei den Sotheby-,
Christie- etc. Katalogen. Ich helfe Hans beim Photographieren, schnüffelte aber,
während er einstellt, in d. Büchern herum, was zur Folge hat, daß ich gelegentlich
das Abblenden etc. vergesse (was sonst mein Geschäft ist), sodaß eine Platte futsch
ist
– was aber auch zur Folge hat, daß ich ganz zufällig eine Anregung erwische. Ges-
tern war eine Platte futsch, aber ich bin auf Zeichnungen von Franc[esco] di Giorgio
in L’arte gestoßen, die das Rätsel des Liebespaares (Anonym, vielleicht Zoan And-
rea) bei Lugt lösten. Das hat uns beiden viel Spaß gemacht. Jetzt muß ich nur noch
nachsehen, ob sich vielleicht zufällig eine Cassone von F[rancesco] di G[iorgio] dieses
Stoffs erhalten hat. Das kann ich leicht bei Witt
…61
Die Verbindung zwischen d. Törichten Jungfr[auen] Zeichn[ungen] bei Lugt u.
d. ausgeführten Modello im Brit[ish] M[useum] kann jetzt mit d. eingetroff[enen]
Photos von Lugt leicht hergestellt werden. Von den „Greco“blättern wird sich so d.
Brücke nach Verona schlagen lassen, das ich – im Gegensatz zum Albertinakatalog –
schon voriges Jahr als Entstehungsort der gewissen Tintorettozeichn[ung] von Grassi
angenommen hatte. Ich werde zu kunsthistorisch, wie ich es in diesem Tagebuch
doch nicht sein wollte. Zuhause war eine sehr herzige Karte von Mama, ein Geburts-
tagsbrief von Georg (als wäre er von seiner Großmutter geschrieben), andres mehr
und ein Telegramm von Lord Allendale, der uns mit Vergnügen sein Bild zeigen wird
(und wir werden es doch wiederum nicht für einen Giorgione halten, fürchte ich !), er
telegraphiert aus Windsor, also ein Mann, der auch beim Ascotrennen dabei ist, ja wir
haben hier sehr vornehme Bekannte … aber am meisten freute mich doch die Karte
vom Kurt ! Heut ist der richtige Londoner Sonntagvormittag. Tagebuch schreiben,
Briefe, Photos einordnen, ausruhen. Am Nachmittag sind wir schon wieder tätig.62
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien