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Tagebuch 1937/2
Kartonsaal, obwohl er im oberen Saal liegt, wie in einen Keller, so finster ist es drin !
Vielleicht – er hat Oberlicht, die Glasscheiben sind aber verdunkelt – um d. Kartons
nicht zu sehr d. Licht auszusetzen. Das ist sehr traurig, denn der Eindruck könnte
unbeschreiblich sein, man sieht es an den Fragmenten, die man auffassen kann.
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Jetzt sitzt Hans u. stöhnt über eben eingelangten Dürer II/2 Korrektur[en]. Hans
hat sie hererbeten
– sie schicken sie knapp bevor wir aufbrechen ! So ist es immer.
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23. [Juni] abends.
Heute früh kam von Sir Audley Neeld eine definitive Absage : er ist an allen Tagen
des Juni u. Juli awfully engaged u. ist awfully sorry etc. Da er 82 oder 92 Jahre alt ist
und – wie wir aus who is who wissen – ein persönl[icher] Freund von Edw[ard] VII.
oder William The Conquerer können wir wohl nichts dagegen machen u. müssen uns
damit begnügen, die Photogr[aphie] seines hl. Georg bei Witt gesehen zu haben. Ein
Brief von Fixlein, der Margaretls Durchfall in Latein u. Näheres über Burgl enthielt,
hat uns die Laune weiter verdorben. Wir fuhren stadtwärts, Hans zur Bank, ich in
die Spanish Gallery, wo ich viele Photos nach Z[eichnung]en u. Bildern geschenkt
bekam.69
Dann trafen wir uns Ecke Piccadilly – Bond Street u. gingen nach Piccadilly 144
zu Lord Allendale, der in einzig schöner Lage am Rand d. Hyde Parks wohnt. Er hat
selbst einen schönen Garten u. gleich dahinter noch außerhalb dieses ist ein andrer
Park, zu dem er d. Schlüssel hat. Aus dem Hyde Park sind Entlein zu ihm herein
geflogen u. haben sich ein Nest gebaut, sind ausgekrochen u. schwimmen jetzt in
seinem Teich. (Mitteilung des Butlers). Der Allendale-Giorgione ist ein sehr bedeu-
tendes Bild u. sicher niemandem näher als dem Genius, den wir Giorgione nennen.
Die Landschaft ist wie auf d. Tempesta aufgebaut u. der Josef wie d. Greis auf d.
Wiener Bild ; es ist sicher ein zeitgenössisches Bild. Aber alles ist doch wie von einem,
der sich nicht darum plagen mußte. Sehr gekonnt, sehr gepflegt. Die Staffagefiguren
sind feinster Giorgionestaffagestil wie auf d. Hintergrund d. Giulio Campagn[ola].
Johanneslandsch[a]ft oder auf d. Hügelweg d. Noli me Tangere. Im selben Raum
ist ein entzückendes Anton[ius] Abbasensemble von Giov[anni] di Pietro, ein Zins-
groschen von Rembrandt, ein herrlicher Steen. Wir haben noch alle Bilder in ande-
ren Räumen betrachtet u. dabei die verschiedenen Unterrichtsstunden der jungen
Herrschaften gestört. In einem Zimmer lernte ein Knabe französisch, das aber seine
Governess weiß Gott sehr unfranzösisch aussprach, in einem andern Mäderl (in alt-
gelb mit ebensolchem Velasquezmascherl im blonden Haar) u. Bubi etwas andres.
Die Erzieherin hier sprach uns deutsch an : „Waren Dresden Bilder sehen ? Ich dort
Pensionat. Raffaelmadonna sah !“ Dann aber erzählte sie weiter, daß die Kleine mit
deutsch angefangen habe, aber mit einem deutschen Fräulein, was uns doch ein wenig
beruhigte. Lord Halifax wohnt auch sehr schön am Eaton Square, aber doch mehrere
Grade weniger „aussichts“reich. Er hat das Temple Newsam Porträt, das noch am
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien