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Tagebuch 1937/2
25. [Juni]
Wir sind bei so trüben Wetter (man mußte beim Frühstück Licht brennen !) nach
Hampton Court, daß wir nicht nur alles Regen-entsprechende anhatten, sondern
auch fürchten mußten, von d. Bildern nichts ausnehmen zu können. Es klärte sich
aber schon auf der Hinfahrt im Trolley-Bus auf (wir saßen oben, wo man von den
Oberdrähten das Gedonnere aus erster Hand hat), sodaß die eine Sorge genommen
war, aber die lästigen Mäntel u. Schirme uns dafür blieben ! Clark hatte uns einen
Brief an den dortigen Beamten (Rainbow) mitgegeben, der uns die 2 Sh[illing] Ent-
reé ersparte, dafür die Depots u. Schranken vor d. Bildern öffnete. Die Galerie ist
neu aufgestellt u. katalogisiert (den Katalog hatten wir erworben) ; es sind schon sehr
interessante Bilder darin ; der sehr gute frühere Jacopo Bassano, ganz hell und das
wunderbare mondsilbrige Spätbild. Das prachtvolle Porträt von Tintoretto ; das […]
bild (wohl früh ?), das Esther vor Ahasver-Bild (das ich nicht für Tintoretto halte).
Die Doublette des Gaston de Foix wird hier als Savoldo geführt, scheint mir eine
späte Kopie zu sein. Wundervoll d. Anbetung d. Kindes von Savoldo. Die vielen Dos-
sos, an denen man die Provenienz so vieler Bilder aus Mantua merkt. Als Spezia-
lität erwähne ich „die Zusammenkunft des englischen Königs mit Maximilian“ by
an unknown painter, nach meiner Erinnerung eine Vergrößerung ins 100.fache aus
Dürers Ehrenpforte heraus. Wir blieben so lange, daß wir garnicht in d. Park kamen,
sondern mit d. Zug nach Waterloo Station fahren mußten, wo wir d. Vereinfachung
halber auf dem Bahnhof im Buffet speisten. Es ging schnell, war aber nicht eigentlich
„restfull“, da es so laut auf d. Bahnhof zugeht, daß man sich nur schreiend verständi-
gen kann. Bei Witts hab ich dann dem Hans einiges gezeigt, worauf ich gestern ge-
stoßen bin. Darunter die anonyme Z[eichnung], die in der Geigerschen Versteigerung
1920 war, die ich für einen Tizian halte. Noch nie etwas den Liller Petr[us] Martyr-
Skizzen so ähnliches gesehen ! Eine schwierige Sache, wenn man das Bild nicht zur
Bestimmung dabeihat ! Wer hätte bei d. Liller Kritzeleien an Tizian gedacht, wenn
man nicht die Hilfe des Bildes gehabt hätte ? ! Wir nahmen provisorischen Abschied
bei Witts, Hans fuhr zum Photographen wegen d. Platten urgieren und auf d. Post,
ich ging d. Oxford Street zufuß zu Cook, wo wir uns trafen. Ich habe zum ersten-
mal, seit ich von Wien weg bin, meiner Leidenschaft gefrönt u. mir Schuhgeschäfte
angesehen. Die Eisenbahnkarten haben nicht mehr gekostet, als wir erwartet hatten
(bez[iehungsweise] als Hans sich ausgerechnet hatte), darüber waren wir sehr befrie-
digt, nahmen ein Taxi u. fuhren ins Claridge zu Duveen. Dort waren wir aber zu früh
u. vertrieben uns noch ein kleines halbes Stündchen die Zeit (u. d. Hunger) in einem
ABC, bevor wir bei dem alten Herrn antreten konnten. Der empfing uns zubette
liegend, hoch kongestioniert und unerhört viel sprechend. Er sperrt in 18 Monaten d.
amerikanische Geschäft zu. Sein Neffe führt das Pariser Geschäft weiter, seine Leute
in Amerika führen weiter Geschäfte, aber nicht mit d. alten Firmennamen. Er bleibt
in London, wo er sich ein Haus mit vier Acres mitten in d. Stadt kauft u. s. w. Nie-
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien