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Tagebuch 1937/3
Jugendlichkeit zu erhalten u. ein paar recht konventionelle (noch dazu) Lebenslügen,
wie etwa ein „gebildeter“ Mensch zu sein. Vieles Negative wird ein wenig durch ihr
Bedürfnis, mit Menschen freundlich zu sein wettgemacht. Das ist sicher etwas, aber
nicht genug.
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Abends im Bett.
Wir waren in den Sc[uola] di San Rocco u. sahen d. Bilder, die das Vormittagslicht
brauchen. (In d. Chiesa konnten wir d. Vorbild einer Brünner Z[eichnung] finden).
Dort haben wir dann Franz verlassen u. sind in d. Akademie. Am Nachmittag tra-
fen wir Phil Hendy in d. Ausstell[ung], der einen sehr müden u. kranken Eindruck
machte. Wir waren abends bei Floriani zusammen. Ich fühlte mich ganz heimatlich,
wieder einmal engl[isch] sprechen zu können. (Photoeinkäufe, Wohnungssuche für
September).
– Letzte Karte von zuhaus !
– Anderl !
29. [Juli] früh.
Wir sitzen schon in d. Eisenbahn, abfahrtbereit. Heimfahrtbereit. Unsere Probereise
–
die erste gemeinsame so lange dauernde
– geht zuende. Nichts bleibt zu tun
– als die
Tagebücher nachzulesen ! Nein, noch eines : den letzten – gestrigen – Tag in Venedig
festhalten. Wir sind in d. Früh nach Sta. Maria dell’ Vito, um von den beiden – herr-
lich beleuchteten Bildern die letzte wichtige Ergänzung zur Mostra zu finden. Der
Tanz ums gold[ene] Kalb wirkt klarer, stärker, vielleicht weil die großfigurige ruhige
Kompos[ition] ganz nach vorn gelegt werden konnte. Ein irdisches Bild. Das Jüngste
Gericht ist daneben eingezwängt, die wichtige obere Hälfte allzu gedrängt.
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Vielleicht liegt es aber nur daran, daß man nicht ganz zurücktreten u. mühelos
dabei d. Fenster weghalten kann. Ich müßte erst einmal bei Nachmittagslicht dieses
zweite Bild sehen. Oder von d. Galerie ! Ich erinnere mich, von dort einmal einen
guten Überblick gehabt zu haben
…
Nachher in die Mostra ; sie wirkt noch immer „überraschend“, jedes Bild „neu“ !
Wir freuen uns, jetzt eine ausgiebige Distanz zwischen d. Eindrücke legen zu kön-
nen – bis September zumindest sechs Wochen ! Franz erschien mit dem Rücken-
akt, diesmal von vorn und „Glaser“ benamst u. nicht nur das, sondern auch aus der
Formanekgasse u. nicht nur das, sondern auch eine ehemalige Kollegin von Maria
Schönberg, was eigentlich sich aber auch von selbst versteht. Er verabschiedete sich
bald, ich denke, er „führte“ sie dann durch d. Ausstell[ung], wie ich ihn geführt hatte.
Am Nachmittag schliefen wir ausgiebig u. gingen dann nach San Sebastiano in die
P[aolo] Veronesekirche, die ganz einsam war ; ihre größte Zeit ist erst in zwei Jahren
–
la Mostra di Paolo Veronese ! wie sie d. Katalog d. Tintorettoausstell[ung] schon an-
kündigt. Höchste Zeit, was diese Kirche anbelangt : sie ist sehr restaurierungsbedürf-
tig. Bei manchen Teilen kommt d. Restaurier[ung] wohl schon zu spät ! Der Mesner
mit d. Brille, der wie ein Professore aussieht, hat Angst, man wird ihm d. Bilder alle
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien