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Tagebuch 1938/1
8. [Mai] (Sonntag) Abend.
Gestern war wieder so ein voller Tag (bis Mitternacht !), daß ich nicht zum Schreiben
kam. Früh beim Pfarrer von S. Nazaro wegen d. Glasfenster. Das war ein lustiger
Patron, der uns auf dem kurzen Weg vom Pfarramt zur angrenzenden Kirche lauter
Witze (politische, versteht sich) erzählte, den letzten noch in der Kirche drinnen !
Er lieh uns d. Photos u. ging dann eilig zum Beichtstuhl, aus dem er uns noch, als
wir ein paar Minuten später vorüberkamen herauswinkte, das schwerhörige Ohr zu
seinem Beichtkind geneigt. In der Ambrosiana nahmen wir noch die ausgestellten
Z[eich nung]en auf u. bestellten ein Photo beim dasigen Photogr[aphen]. Im Cas-
tello wo man uns Z[eichnung]en vorbereiten wollte, war eine plötzlich anberaumte
Sitzung wegen der im Herbst (Septemb[er]) zu eröffnenden Leonardoausstell[ung],
sodaß wir warten mußten, Zeitschriften ansahen. Dann erschien Dr Baroni (ausge-
hungert u. orientiert), u. d. Direttore Nicodemi (fett u. verschwatzt), aber wir haben
nur den ausführlichen Besuch am Montag eingeleitet, wobei es sich herausstellte, daß
Montag festa dell’ Impero war (aber es wird doch gehen, daß wir Z[eichnung]en an-
schauen). Nach Tisch fuhren wir erst zum Americ[an] Expr[ess], wo wir einen Brief
Stoffels u. Marignanes fanden. Der Stoffels war besonders gut, ein (wahrscheinl[ich]
völlig ausreichendes) Darlehen von Lili ! Wir holten Geld bei d. Cit u. dann per Auto
mit Pesaro zu d. beiden Grafen, d. […] anschauen. Richtiges Museumsbild ; für die
ital[ie nische] Ausstell[ung] in London (1930) ein wenig überfirnist, da das gut f. d.
Seefahrt u. d. Seeklima sein soll. Bei Ferrari d. Photo d. „Bellini“ abgeholt u. bei Ca-
valieri Foresti geendet. Der ist ein herziger Kunsthändler. Hat gute deutsche Flügel,
ein kurioses vielleicht kölnisches Bild M[adonna] + K[ind] in flammender Glorie
auf Mond herum Wolkengekräusel mit kleinem Gottvater u. Taube. Das ganze fast
nur mehr d. Unterzeichn[ung] erhalten, auf ein ganz feines Tüchlein, das auf dickere
Leinwand aufgezogen ist. Er hat noch andre gute Sachen u. a. ein hinreißend fri-
sches Portrait, das Suida in d. ersten Begeisterung als Tizian angerufen hat, um aber
dann doch gleich traurig hinzuzusetzen : nein, es ist später. Ich hab’s als Strozzi be-
stimmt u. sowohl Hans als auch Foresti fanden das zutreffend. Wir haben uns am
Abend bei Morassi das Büchlein über Strozzi (u. a.) ausgeborgt. Bei Morassis war
es ganz nett. Eine sehr lebhafte sympath[ische] Frau ([…]), ein blonder 12jähr[iger]
Bub (Mauro), eine kultivierte Wohnung mit wirklich guten Kunstwerken. U. a. ein
wundervolles Terracottarelief Krönung Mariae von 1438 (?), das er f. florentinisch,
wir für verones[isch] hielten. Ein amüsantes Bild von Bonif[acio], Zeitgott u. Parze
darstellend. Unheimlich aber das photogr[aphische] Material, das er für Giorg[ione]
hält ! Wir hielten nicht mit unseren Zweifeln zurück (vor allem bei einer Z[eichnung,]
die in d. Ambros[iana] unter den Deutschen ausgestellt ist, u. wohl vlämisch M[itte]
16. ist ; ein prachtvolles Blatt mit Weidenstudien u. schlafenden u. sitzenden Bur-
schen). Das Radio wurde aufgedreht u. wir hörten d. Toasts d. Führers u. des Duce,
deren letzterer mit Führer, ersterer mit Duce anfing, wobei jener italienisch und die-
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien