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bouleversementde l’histoire“101) gewähnt, eine fataleFehleinschätzung,wieer
inderzweitenNummerderTempsmoderneseingesteht:
Eine so brutale Erkenntnis vertragen wir aber schlecht: die Scham über die verlorene
Schlacht von 1940undderSchmerzüberdenVerzicht aufunsereVorherrschaft inEuropa
lähmenunsereHerzen.Manchmalmöchtenwir fastglauben,wirhättenunseremLandmit
eigenenHändendasGrab gegraben;manchmal fassenwir aber auchwiederMut undbe-
teuern,daßdasewigeFrankreichnichtuntergehenkönne.Mit anderenWorten:wirhaben
uns imVerlaufvonfünf JahreneinengewaltigenMinderwertigkeitskomplexzugelegt.102
(Nous supportonsmalune révélation si brutale: la honte d’avoir perdu la bataille de40,
la douleur de renoncer à exercer notre hégémonie sur l’Europe se confondent dans nos
cœurs.Nous sommes tentésparfoisde croirequenousavonsmisnotrepaysau tombeau
de nos propres mains; et d’autres fois, nous relevons la tête et nous affirmons que la
France éternelle ne saurait périr. En d’autres termes, nous avons acquis en l’espace de
cinqansunformidablecomplexed’infériorité.)103
Zur Überwindung dieser Schmach der intellektuellen Elite, sich überwiegend
nichtdurch ihrenMutundihrenScharfsinn(„parsoncourageetsa lucidité“104)
hervorgetan zu haben und, so der Historiker Tony Judt, mehr oder weniger
sorglosmit lediglich„acertain ‚résistantialiste‘attitude“105durchdieOkkupati-
onsjahre gekommen zu sein, habe ein regelrechter Résistance-Mythos gedient.
Sperber,derwieSartreauf französischerSeiteüberMonateam„Sitz-Krieg“ teil-
genommenhat, ist nach 1945 von der um sich greifenden „wahrheitswidrigen
Glorifizierung“der eigenenLeistung irritiert undspricht gar voneiner falschen
Einmütigkeit umeine „riesenhaft aufgeblaseneLüge“, die im „Traumades de-
mütigendenZusammenbruchs“daseigeneVersagenvergessen lässt:
Man stieß auf Leute, die ausführlich erzählten,wie siemit demGewehr in derHanddie
Deutschen ausParis verjagt hatten. Zu ihrer Prahlereiwurden sie durchnationalistische
Legenden ermutigt: Frankreich hatte vonAnfang an, hieß es, aktivenWiderstand gegen
dieBesatzungundgegendasPétain-Regimegeleistet […].106
101 Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature? Paris 1948, S. 212 (Hervorhebung im
Original).
102 Jean-Paul Sartre: DieNationalisierungder Literatur. In: Sartre: Situationen. Deutsch von
HansGeorgBrennerundGüntherScheel.Hamburg1956,S. 164–182,hierS. 178.
103 Jean-PaulSartre:LaNationalisationde la littérature. In:Situations, II. Littératureetenga-
gement. Paris 1948, S. 31–53, hier S. 48f. [Zuerst in: Les Temps modernes 1945, Nr. 2
(November).]
104 CécileWajsbrot:Littérature: le romanenfuite. In:GumplowiczundKlein(Hg.):Paris 1944–
1954.Artistes, intellectuels,publics: laculturecommeenjeu.Paris 1995,S.61–70,hierS.61.
105 TonyJudt:Postwar.AHistoryofEuropeSince1945.NewYork2005,S. 209.
106 Sperber:BismanmirScherbenaufdieAugenlegt,S. 179,239.
38 3 GrundlagenundGründungsmythen
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur