Seite - 149 - in Existentialismus in Österreich - Kultureller Transfer und literarische Resonanz
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tre eine ganz besondere Leseerfahrung gewesen („undes livres les plus rares,
lesplusbeauxquenousayons lusdepuis longtemps“12), erinnert sichBeauvoir,
ihreBewunderungKafkassei sofort radikalausgefallen.Dieerwähnte inhaltliche
und formaleNähevonSartres früherProsazu jenerKafkas lässt sichdarüberhi-
naus nur bedingt auf direkte Wirkungen zurückführen: Sartres Beschäftigung
mit demPrager Autor intensiviert sich nach Erscheinen von LaNauséeund Le
Mur mit einer systematischen Lektüre im September 1939, zu Beginn seines
Kriegsdienstes. In seinenCarnets de ladrôle de guerrebezeichnet er den für ihn
hauptsächlich aus Ausharren bestehenden Krieg als kafkaesk („guerre à la
Kafka“13) und seine drei Kollegen als Gehilfen, in Anlehung anKafkas zweifel-
hafte Schloss-Gehilfen („par référence auxAides ambigus deK.“14). Hier deutet
sichan,wasKafkavonanderenprägendenAutorInnenwieWilliamFaulknerab-
hebt, die Sartre und Beauvoir ferne Geschichten („de lointaines histoires“) er-
zählten; KafkasWerk hingegen betreffe sie persönlich, spreche von ihnen und
enthülle ihnen ihre Probleme in einerWelt ohne Gott („Kafka nous parlait de
nous; il nous découvrait nos problèmes, en face d’unmonde sansDieu“15). Auf
dieser gemeinsamenGrundlage einer absurden conditiohumana tragendie exis-
tentialistischen SchriftstellerInnen schließlich zur Verbreitung und zum Erfolg
Kafkasbei („le succès quenousavons fait auxœuvres deKafka“),wie Sartre in
Qu’est-ceque la littérature?behauptet:
Über Kafka ist alles gesagtworden: daß er die Bürokratie, die Fortschritte der Krankheit,
die Lage der osteuropäischen Juden, die Suche nach der unzugänglichen Transzendenz,
dieWeltderGnade,wenndieGnade fehlt, beschreibenwollte.All das istwahr, ichwürde
sagen,daßerdasMenschseinhatbeschreibenwollen.Aber fürunswarbesondersspürbar,
daß in diesem ständig ablaufenden Prozeß, der jäh und schlecht endet, dessen Richter
unbekannt und unerreichbar sind, in denmüßigen Anstrengungen der Angeklagten, die
12 Beauvoir:LaForcede l’âge,S.214. InBezugaufdas literarischeVorausweisenKafkas(unddes
in dieser Hinsicht mit ihm verglichenen Thomas Bernhard) schreibt Ingeborg Bachmann: „Wie
sehrdieseBücherdieZeit zeigen,was siegarnichtbeabsichtigen,wirdeine spätreerkennen […].
In diesen Büchern ist alles genau, von der schlimmstenGenauigkeit, wir kennennur die Sache
nochnicht,diehiersogenaubeschriebenwird,alsounsselbernicht.“Bachmann: [ThomasBern-
hard:] EinVersuch.Entwurf. In: Bachmann:Werke, Bd. 4: Essays, Reden, Vermischte Schriften,
Anhang.Hg. vonChristineKoschel, IngevonWeidenbaumundClemensMünster.München, Zü-
rich 1978, S. 361–362, hier S. 361f. Zahlreich sind inderFolgegenerationdieAutorInnen, diewie
Wolfgruber, Rosei oder Ransmayr „Trost“ in Kafkas „Erzählungen vollendeter Geschichten“ fin-
den.ChristophRansmayr:DieErfindungderWelt. Fragen,Antworten. In:Ransmayr:DieVerbeu-
gungdesRiesen.VomErzählen.FrankfurtamMain2003,S.15–22,hierS.20.
13 Sartre:Carnetsde ladrôledeguerre,S.35.
14 Elkaïm-Sartre. In:Sartre:Carnetsde ladrôledeguerre,S.35.
15 Beauvoir:LaForcede l’âge,S. 214f.
6.1 Verflechtungen:KafkaundderneueKanon 149
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur