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Anklagepunkte zu erfahren, in dieser geduldig aufgebautenVerteidigung, die sich gegen
denVerteidigerkehrtundzurBelastungwird, in jenerabsurdenGegenwart,diedieFiguren
mitEifer erlebenundderenSchlüsselwoanders sind,wirdieGeschichteunduns selbst in
derGeschichtewiedererkannten.16
(DeKafkaona toutdit: qu’il voulaitpeindre labureaucratie, lesprogrèsde lamaladie, la
condition des Juifs en Europe orientale, la quête de l’inaccessible transcendance, le
mondede la grâcequand la grâce fait défaut. Tout cela est vrai, je dirai qu’il a vouludé-
crire la condition humaine. Mais ce qui nous était particulièrement sensible, c’est que,
dans ce procès perpétuellement en cours, qui finit brusquement et mal, dont les juges
sont inconnus et hors d’atteinte, dans les efforts vains des accusés pour connaître les
chefs d’accusation, dans cette défense patiemment échafaudée qui se retourne contre le
défenseur et figure parmi les pièces à charge, dans ce présent absurde que les person-
nagesviventavecapplicationetdont lesclés sontailleurs,nous reconnaissions l’Histoire
etnous-mêmesdans l’Histoire.)17
Die Universalität von Kafkas Situationen – von Sartre einst dahingehend zuge-
spitzt, dass man auch in Guinea das eigene Unbehagen in Kafka wiederfinden
könnte („[e]n Guinée je pourrais lire Kafka. Je retrouve en luimonmalaise“18)–
führt zu einer Vielzahl von Beanspruchungen; sie macht ihn zum „Auskunfts-
büro“19 füralleBelange.WasandendiversenvonAdornoangeführtenEinreihun-
genKafkas (unter „diePessimisten“, „dieExistentialistenderVerzweiflung“, „die
Heilslehrer“20)hervorsticht, istdieVereinnahmungdurchmehroderminderentge-
gengesetzte Interessensgruppen. Diese Tendenz ist in Österreich klar erkennbar,
16 Sartre:Was istLiteratur?,S. 175.
17 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S. 226f.
18 Sartre: Je ne suis pas désespéré et ne renie pas monœuvre antérieure. In: Le Monde,
18.04.1964.
19 TheodorW.Adorno:AufzeichnungenzuKafka. In:Adorno:KulturkritikundGesellschaft 1.
Hg. von Rolf Tiedemann. (Gesammelte Schriften 10.1.) Frankfurt amMain 21996, S. 254–287,
hier S. 254: „DieBeliebtheit Kafkas, dasBehagenamUnbehaglichen, das ihnzumAuskunfts-
büro der je nachdem ewigen oder heutigen Situation des Menschen erniedrigt und mit
quickemBescheidwissen eben den Skandalwegräumt, auf den dasWerk angelegt ist, weckt
Widerwillen dagegen,mitzutun und den kurrentenMeinungen eine sei’s auch abweichende
anzureihen. […]Weniges vondem,wasüber ihngeschriebenward, zählt; dasmeiste ist Exis-
tentialismus. Er wird eingeordnet in eine etablierte Denkrichtung, anstatt daßman bei dem
beharrte,wasdieEinordnungerschwertundebendarumdieDeutungerheischt.“AusderPra-
xis meldet sich Wolfgang Hildesheimer, der sich „einmal mit dem Gedanken trug – wie
schließlich jeder sensible Intellektuelle– ein Buch über Kafka zu schreiben“, ihn dann aber
verwirft, womöglich aus dem genannten ‚Widerwillen dagegen, mitzutun‘, allerdings auch,
weil seine „sämtlichen Bekannten“ keinen Aspekt ununtersucht gelassen hätten. Wolfgang
Hildesheimer: IchschreibekeinBuchüberKafka. In:Hildesheimer:LiebloseLegenden.Frank-
furtamMain1987,S. 18.
20 Adorno:AufzeichnungenzuKafka,S. 284.
150 6 StimmenderGegenwart:ExistentialistischeLiteratur
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur