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Sartre. Ein wiederkehrender Topos in der um die Grenzsituationen Schuld,
Kampf, Leid undTodkreisenden existentialistischenLiteratur ist etwadas To-
desurteil, das Gegenstand von Prosa (Sartres „Le Mur“, Camus’ L’Étranger,
KoestlersDarknessatNoon) undphilosophischenAbhandlungen ist, beispiels-
weisealsBeitrag zurDebatteumden freienWillenundDeterminismus („débat
entre les théories du libre arbitre et celles dudéterminisme“173) in Camus’und
KoestlersRéflexions sur lapeinecapitalevon1957.AuchaußerhalbFrankreichs
bringtdasThemagenügendTextehervor. Todgeweihte, soMiloDor, beschäfti-
gen „dieselben Gedanken“, jene, die er in seiner Erzählung „Der vergessene
Bahnhof“ indenStimmenderGegenwartvon1953veranschaulicht:
Ich habe denMorgen gesehen, die anderenhaben ihnnicht gesehen. IhreAugenhaben
nicht denselbenMorgen gesehen. Sie habennicht gewußt, daß sie sterbenwerden, und
konntennicht alles sehen. Ich habe alles gesehen, klar, bis ins letzte Detail. Die Straße,
aufderwir zumHinrichtungsplatzgefahrensind,dieHügel, einkleines,weißesHausam
Rande,mit einemkleinenGarten,diegebückte, alteFrau, einenBauernwagenmit einem
mageren Pferd, den struppigen Schnurrbart des Bauern und die erloschene Pfeife zwi-
schen seinengelbenZähnen.UndmeinganzesLeben lagda, aufdieser Straße. Indieser
halbenStundehabenmeineAugenalles ausgetrunken.Nochniehabe ich sogewünscht
zu leben.Einfach leben.OhnegroßeWorte. IndiesemAugenblickhabe ichesgesehen, in
demSchauer des frühenMorgens, nach der durchwachtenNacht,meiner letztenNacht.
[…] [U]nd habe begriffen, daß es sich lohnt zu leben und für dieses Leben zu sterben,
wennesdaraufankommt.Aberdas ist schonlangeher.Fürmich istesschonaus.174
Die hier mit der herannahenden Hinrichtung in Gang gesetzten Gefühlspro-
zesse–Agitiertheit, gesteigerteWahrnehmungderUmwelt, schließlichBeruhi-
gung, Gleichgültigkeit undAkzeptanz des Schicksals– variieren die berühmte
Schlussszene von Camus’ L’Étranger (1941), in der der zum Tode verurteilte
HeldMeursaultendlichzurRuhekommt:
Ich war erschöpft und warf mich auf meine Pritsche. Ich glaube, ich habe geschlafen,
denn als ichwachwurde, schienenmir die Sterne insGesicht. Die Geräusche der Land-
schaft stiegen zumir auf. Düfte aus Nacht, Erde und Salz kühltenmeine Schläfen.Wie
eine Flut drang derwunderbare Friede dieses schlafenden Sommers inmich ein. In die-
sem Augenblick und an der Grenze der Nacht heulten Sirenen. Sie kündeten den Auf-
bruch ineineWelt an,diemirnun für immergleichgültigwar. Zumerstenmal seit langer
Zeit dachte ich anMama. Jetzt begriff ich auch,warum sie amEnde eines Lebens einen
„Bräutigam“ genommen, warum sie wieder „Anfang“ gespielt hatte. Auch dort drüben,
dort imAltersheim, indemdieLebenerloschen,warderAbendwie einmelancholischer
173 ArthurKoestler: Réflexions sur la potence. In: Koestler undAlbert Camus: Réflexions sur
lapeinecapitale, introductionetétudedeJeanBloch-Michel.Paris 2002,S. 113.
174 Milo Dor: Der vergessene Bahnhof. In: Stimmen der Gegenwart, 1953, S. 107–116, hier
S. 115f. 6.3 LiteraturunterdemGalgen:Grenzsituationen 177
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur