Seite - 184 - in Existentialismus in Österreich - Kultureller Transfer und literarische Resonanz
Bild der Seite - 184 -
Text der Seite - 184 -
unvernünftigenSchweigen(„silencedéraisonnable“)derWelthandelt,umeine
sichplötzlich inderLebensmechanikauftuendeKluft:
Manchmal stürzendieKulissenein.Aufstehen, Straßenbahn, vier StundenBürooderFa-
brik, Essen, Straßenbahn, vier StundenArbeit, Essen, Schlafen,Montag, Dienstag,Mitt-
woch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist meist ein
bequemerWeg.EinesTagesaber erhebt sichdas„Warum“, undmitdiesemÜberdruß, in
den sich Erstaunenmischt, fängt alles an. „Fängt an“ – das ist wichtig. Der Überdruß
steht am Ende der Handlungen eines mechanischen Lebens, gleichzeitig leitet er aber
auch eine Bewußtseinsregung ein. Er weckt das Bewußtsein und fordert den nächsten
Schrittheraus.DernächsteSchritt istdieunbewußteRückkehr indieKetteoderdasend-
gültige Erwachen. Schließlich führt dieses Erwachen mit der Zeit zur Entscheidung:
SelbstmordoderWiederherstellung.204
(Il arriveque lesdécors s’écroulent. Lever, tramway,quatreheuresdebureauoud’usine,
repas, tramway, quatre heures de travail, repas, sommeil et lundimardimercredi jeudi
vendredi et samedi sur lemêmerythme, cette route se suit aisément laplupartdu temps.
Un jour seulement, le „pourquoi“ s’élève et tout commence dans cette lassitude. „Com-
mence“, ceci est important. La lassitude est à la fin des actes d’une viemachinale,mais
elle inaugure enmême temps lemouvementde la conscience. Elle l’éveille et elle provo-
que la suite. La suite, c’est le retour inconscient dans la chaîne, ou c’est l’éveil définitif.
Auboutde l’éveilvient,avec le temps, laconséquence: suicideourétablissement.)205
ImVerhältniszuCamus istdasAbsurde fürAméry
inWahrheit zugleich alltäglicher und schrecklicher als der Sisyphos-Mythos, ein jeder
vonunserlebtdasAbsurde,nurwenigenehmendasErlebnisauf sichundführenesden-
kendundhandelnd, ‚denkhandelnd‘,würde ich schreiben, klängedasWort nicht so ge-
quält, zuEnde.On s’arrange: dies einedermeistgebrauchtenFormelnder französischen
Umgangssprache,dieknappdieTatsachenwiderspiegelt.206
Für die beidennachdemEinbruchdesAbsurdengeschildertenMöglichkeiten,
LebensbeendigungoderZurücksinken indenAlltag, findensich inderösterrei-
chischen Prosa der fünfziger Jahre Beispiele: Marlen Haushofers Held in „Die
Stechmücke“hat sich trotz innererWiderstände ein bürgerliches Leben aufge-
baut, indas sich jähdasBewusstseinüber einstüberschritteneGrenzenbahnt:
„Undwie einMensch, der ausderNarkose erwacht, fing er plötzlich an zu lei-
den. Er hatteDinge gehört, gesehenundgetan, die ihmerst jetzt ganzbewußt
wurden, und er fand eswidersinnig, daß er nach allem immer noch lebte.“207
204 Camus:DerMythosdesSisyphos,S. 22f.
205 Camus:LeMythedeSisyphe,S.46, 29.
206 Améry:Handansich legen,S. 145f.
207 MarlenHaushofer: Die Stechmücke. In: Haushofer: Schreckliche Treue, S. 158–166, hier
S. 160.
184 6 StimmenderGegenwart:ExistentialistischeLiteratur
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur