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Der erste Roman, der sich der Abrechnung vonNaziverbrechen, „der österrei-
chischen Schuld und der nicht geleisteten Sühne“239 verschreibt und insofern
als bahnbrechend („un travail de mémoire pionnier“240) gelten kann, ist Die
Wolfshaut (1960), dessen Verfasser Hans Lebert zehn Jahre zuvor dichtend
prophezeit:
AlshätteesnuraufdemGrunde
derDingeunsergeharrt,
strömtesnunbreitausdemMunde,
ausdesLandesverfilztemBart.241
Der konkreteOrt, andemsichdiesesSzenario inDieWolfshautvollzieht, heißt
SchweigenundsummiertdamitbereitsdasHauptverhaltender in ihmangesie-
deltenDorfgemeinschaft. Ein aus demKrieg zurückgekehrter, aus demKollek-
tiv ausgeschlossener Matrose spürt einemVerbrechen nach, das einem Fluch
gleich über Schweigen liegt – versinnbildlicht nicht durch eine Fliegenplage
wie in Sartres Les Mouches, sondern durch einen auf der Lauer liegenden
Wolf.242 Einige EinwohnerInnen, darunter auch der an den eigenen Schuldge-
fühlenzugrundegegangeneVaterdesMatrosen,haben inden letztenKriegsta-
gen FremdarbeiterInnen hingerichtet und die Tat danach verdrängt. Ihre
Gesichtererscheinennunwie„Masken,durchderenAugenschlitzeetwasande-
res hervorsah, etwas, das gar nichts zu tun hatte mit dem Staatsbürgerblick
jener Leute. Es drang von hinten durch die Mauer, durch Steine, Mörtel und
Verputz, war im fotografischen Papier als unsichtbarer Moderfleck verspür-
bar.“243GerhardFritsch rühmthier den „Inhalt, der das vielzitierte Schlagwort
von der ‚Bewältigung‘ und ‚Aufarbeitung‘ der Vergangenheit weitab der ge-
239 Kriegleder:DieLiteraturder fünfziger Jahre inÖsterreich,S.48.
240 Hélène Barrière: L’Hybridation narrative au service du débat sur le nazisme dans Die
Wolfshaut (1960) deHans Lebert. In: Germanica 2008, Nr. 42, S. 1–14, hier S. 1. https://jour
nals.openedition.org/germanica/527 (einges.09.01.2019).
241 HansLebert:Vergangenheit. In:TüranTür, 1950,S.51.
242 Jürgen Egyptien: Kreuzfahrten durch den leeren Himmel. Hans Leberts „Wolfshaut“ als
transzendentalesLogbuch. In:HansLebert:DieWolfshaut.Wien,Zürich1991,S. 597–627,hier
S. 614: Egyptien erkennt hier existentialistische Züge im „Gefühl der Verlassenheit, der Hei-
matlosigkeit und eines absoluten Ausgesetztseins“: „Unabweisbar spürt man hier die nicht
nur zeitliche Nähe der ‚Wolfshaut‘ zum Existenzialismus von Sartre oder Camus, deren be-
rühmtesteRomane ‚DerEkel‘, ‚DerFremde‘oder ‚DiePest‘schonalleinemit ihrenTiteln indie
Kernzonender ‚Wolfshaut‘weisen.“
243 HansLebert:DieWolfshaut.Hamburg1960,S. 29.
6.3 LiteraturunterdemGalgen:Grenzsituationen 193
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur