Seite - 198 - in Existentialismus in Österreich - Kultureller Transfer und literarische Resonanz
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Und am laufendenBand rollen die Bücher über Salzburger Idylle, Komtessen vonAnno
dazumal, dasWien der guten alten Zeit, gute und schlechte Liebesgeschichten (die auf
demMondspielenkönnten), guteundschlechteKindheitserinnerungen (die sichbesten-
fallsandie„Aktualität“desaltenOesterreichheranwagenundvergeblich– JosefRothzu
kopieren suchen), subtile Psychologieder „ewigenDreiecke“, Viereckeundsonstiger Se-
xualgeometrieausderDruckerpresse.265
Diese Negativbeispiele widersprechen dem Aktualitätsgebot der existentialisti-
schenLiteratur,diekeinenSprung insEwige („sautdans l’éternel“)mehrdulde;
diezeitlicheDimension, soSartre inQu’est-ceque la littérature?, habe realistisch
zusein,dieErzählzeitdererzähltenzuentsprechen(wobeidiebeschränktenMö-
glichkeiten des zeitdeckendenErzählens denEinsatz gewisser narrativer Tricks,
„des trompe-l’œil“, rechtfertigen): „WennwirdenLesernämlichunvermittelt in
einBewußtsein stürzen,wennwir ihmalleMittel verweigern, es zuüberfliegen,
dannmußman ihmohneAbkürzungendieZeitdiesesBewußtseinsaufzwingen.
Wenn ich sechs Monate auf einer Seite zusammenfasse, springt der Leser aus
demBuch heraus.“266 („Si nous plongeons en effet, sansmédiation, le lecteur
dansuneconscience, si nous lui refusons tous lesmoyensde la survoler alors il
faut lui imposer sans raccourcis le temps de cette conscience. Si je ramasse six
moisenunepage, le lecteursautehorsdulivre.“267)
Einzutauchen indieeigeneEpochebedeutet indiesemSinneauch,Ereignisse
imPräsenszuschildernundnicht imsinnstiftendenRückblick. Insgesamtwerden
der fiktionalenWeltdieVersicherungengenommen, insbesonderedieüberdasFi-
gurengeschick waltende AutorInneninstanz: Machten frühere Werke – explizit
oderallusiv–ständigaufdieExistenz ihrerUrheberInnenaufmerksam,solltenun
nichtsmehraufdiesezurückweisen („nousvoulionschasser laProvidencedenos
ouvrages comme nous l’avions chassée de notre monde“268). Die existentialisti-
schen Romane verzichten – „ohne innere Erzähler noch allwissende Zeugen“269
(„sans narrateurs internes ni témoins tout-connaissants“) – auf alle Vermittlung
zwischenLeserInnenundFiguren(„intermédiairesentre le lecteuret lessubjectivi-
tés-points-de-vue de nos personnages“), umauf dieseWeise einen rohen, nahen
RealismusderSubjektivität („réalismebrutde lasubjectivité sansmédiationnidi-
stance“270) zuerreichen.EinSystem invollerEntwicklung („enpleineévolution“)
265 Priester:DieAufgabenderösterreichischenLiteratur,S. 3f.
266 Sartre:Was istLiteratur?,S. 172.
267 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S.305f.
268 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S. 228.
269 Sartre:Was istLiteratur?,S. 173.
270 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S. 224, 305. Ziel seiüberdies,mehrereSubjektivitäten
darzustellen, umder Pluridimensionalität von Ereignissen gerecht zuwerden, nicht fern der
Polyphonie undDialogizität, dieMichail Bachtin bei dem von den Existentialisten verehrten
198 6 StimmenderGegenwart:ExistentialistischeLiteratur
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur