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Ingeborg Bachmann dennoch ganz „auf ein Du gerichtet“ in seinemWillen,
„derGestalt derWelt, […] denZügendesMenschen indieser Zeit“309Ausdruck
zu verleihen. Die konkrete Aufgabe der Literatur sei es, so Bachmann in ihrer
Rede „DieWahrheit ist demMenschen zumutbar“ (1959), den „großen gehei-
menSchmerz“derconditiohumanaabzubilden;siemüsse ihn
wahrhabenundnoch einmal, damitwir sehenkönnen,wahrmachen.Dennwirwollen alle
sehendwerden. […]Wirsagensehreinfachundrichtig,wennwir indiesenZustandkommen,
denhellen,wehen, indemderSchmerz fruchtbarwird:MirsinddieAugenaufgegangen. […]
UnddassolltedieKunstzuwegebringen:daßuns, indiesemSinne,dieAugenaufgehen.310
LiteratursollaufgenaudieseWeisesehenmachen,gehtesnachSartre,der
beidererstenUNESCO-Generalkonferenz imNovember1946 inParis zurVeran-
schaulichungseinerÜberlegungeneinGlasheranzieht:
Wennich„dasGlas“sage, soändere ichzwarscheinbarnichts.Aberwennichesbenenne,
lasse iches fürmichundfürmeinenNebenmann,deresvielleichtnichtgesehen,vielleicht
eineallgemeineWahrnehmunghatte, inderdasGlas inallemübrigenunterging,ausdem
Schattenhervortreten.Folglichexistiert esvondiesemMomentan für ihn,undsobeschei-
dendieseVeränderung auch seinmag, seineWelt hat sichdadurchverändert. Es gibt für
ihn jetzteinenGegenstand,derexistiertunddervorhernichtexistierte.311
(Il est vrai que si je dis: le verre, enapparence jene change rien. En fait, si je lenomme,
je le fais sortir de l’ombre pourmoi et pourmon voisin, qui peut-être ne l’avait pas vu,
quipeut-être avait uneperceptionglobaledans laquelle le verre était perduaumilieudu
reste. Par conséquent, dès cemoment, il existe pour lui, et de ce fait, si humbleque soit
le changement, sonunivers est changé. Il y amaintenant pour lui un objet qui existe et
qui,auparavant,n’existaitpas.)312
DieseArt desAufdeckens ist konsensfähig für viele AutorInnenmit oder ohne
Beziehung zum Existentialismus. Noch 1989 plädiert Christoph Ransmayr an-
lässlichderVerleihungdesAnton-Wildgans-Preisesdafür,„daßaucheineinzi-
ges Buch alles leisten sollte, was der Literatur insgesamt zugetrautwird“, ein
309 IngeborgBachmann:DieWahrheit istdemMenschenzumutbar.RedezurVerleihungdes
HörspielpreisesderKriegsblinden. In:Bachmann:Werke,Bd.4,S. 275–277,hierS. 276. [Zuerst
in:DerKriegsblinde10(1959),Nr.8.]
310 Bachmann:DieWahrheit istdemMenschenzumutbar,S. 275.
311 Jean-Paul Sartre: Die Verantwortlichkeit des Schriftstellers. Vortrag zur Gründung der
UNESCOam1.November1946anderSorbonne. In:Sartre:SchwarzeundweißeLiteratur.Auf-
sätzezurLiteratur 1946–1960.Hg.undmiteinemNachwortvonTraugottKönig.Übersetztvon
Traugott König, Gilbert StrasmannundElmar Tophoven. (GesammelteWerke in Einzelausga-
ben,SchriftenzurLiteratur5.)Reinbek1984,S. 17–38,hierS. 20.
312 Sartre:LaResponsabilitéde l’écrivain,S. 16f.
206 6 StimmenderGegenwart:ExistentialistischeLiteratur
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur