Seite - 256 - in Existentialismus in Österreich - Kultureller Transfer und literarische Resonanz
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Vor allemWort undWahrheit, eine vonOttoMauer undOtto Schulmeister her-
ausgegebene, auf die Modernisierung der katholischen Kirche zielende „Mo-
natsschrift für Religion und Kultur“, liefert, wenn auchmeist kopfschüttelnd,
die umfänglichstenAuseinandersetzungenmit Sartres Schriften. Federführend
ist hier der unter dem PseudonymGotthardMontesi aktive Anton Böhm, der
besondersanderNegativitätdesExistentialismusAnstoßnimmt:
WennSartreunsmitteilt,daß ihmundseinenHeldendasSeinoderdieExistenzEkelein-
flößt, sohabenwirdasmitBedauernzurKenntnis zunehmen. […]Warumaber ist esge-
rade der Ekel und sind es auch sonst die negativen, eine Verneinung enthaltenden, ein
Nichts anzeigenden Erfahrungen, wie Angst, Verzweiflung, Scham, Langeweile, durch
die Sartre das Sein erscheinen läßt?Warumwählt er dazu nicht positive Seinserfahrun-
gen,wie Freude, Staunen,Begeisterung, Schönheitsgefühl–oder Liebe? […] Es gibt dar-
auf nur eine Antwort: weil da eben keine Liebe ist, keine starke und aufrichtige
Bejahung, sonderneinurgründigesNeingegendieExistenz, eineverborgene, irrationale
AblehnungdesSeins indenTiefenderSeele.132
Auf der Basis dieser Gemütsverfassung vermag „das schwelgerischeVerweilen
des Romanschreibers Sartre beim Scheußlichen, Widerlichen, Befleckten, Er-
bärmlichen, Korrupten, Gemeinen, Verfaulenden“133 nicht mehr zu verwun-
dern. Dass solche speziell in katholischen Periodika vorkommende Drastik
nicht rein konfessionell bedingt ist, beweist 1948 die sozialdemokratischeAr-
beiter-Zeitungmit folgendemKommentarzurexistentialistischenLehre:
Gleichzeitig sieht sie dieseWelt, denMenschen also, als große Eiterbeule an, in dermit
wahrerWollust herumgewühltwird, so daß auch das kleinste Stückchen reinerHimmel
vonpestilenzialischenWolkenverhülltunddieWelt zueiner irrenHöllewird, erfüllt von
WahnsinnsschreienundverfaultemAuswurf.134
132 GotthardMontesi: Sartre unddie SartristenoderHybris undErniedrigungdesMenschen.
In:Wort undWahrheit 7 (1952), 2. Halbjahr, S. 656–674, hier S. 669. Dass diese Ausrichtung
derKritik auch inFrankreichnicht unbekannt ist, lässt Vian schonmit demTitel seinesArti-
kels„Sartreet lamerde“ (S. 261f.)wissen:„Siewerfen ihmkollektivdieErbrochenengeschich-
ten vor, dieman tatsächlich da unddort finden kann in denWerken des Flore-Priesters […].
Uns scheint, dass diese oberflächlichen Exegeten einen groben Fehler begehen, indem sie
demAutor […] ausschließlicheineVorliebe füralles,wasmitLatrinenzutunhat, zuschreiben.
Sie haben ihmnie vorgeworfen, denblauenHimmel zu lieben.Aber Sartre sprichtmanchmal
auch davon.“ [Übers. d. Verf.] („Ils lui reprochent, conjointement, les histoires de vomi que
l’on trouve, il est vrai, çà et là dans lesœuvres duprêtre de Flore […]. Il nous paraît que ces
exégètes superficiels commettent une erreur grossière en attribuant […] à l’auteur, des pré-
férencesexclusivement latrinaires. Ilsne luiont jamais reprochéd’aimer lecielbleu.Or,Sartre
enparlequelquefoisaussi.“)
133 Montesi:SartreunddieSartristen,S.669.
134 hub.:OrgiedesFlagellantismus. In:Arbeiter-Zeitung, 11.05.1948.
256 7 DiePhilosophiedesExistentialismus inForschung,LehreundKritik
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur