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Einzelnen von der menschlichen Gemeinschaft und von sozialen Umständen,
sowieseinIgnorierenübergeordneterBegriffevonGutundBöse.181
Der theoretischeHintergrundvonSartresWandelbleibt inderBerichterstat-
tungweitgehendunkommentiert.AbdemMoment,daerdenMarxismusalsPhi-
losophie der Zeit („philosophie de notre temps“182) anerkennt, sucht er dessen
‚sklerotische‘ Theorie mit seiner Freiheitsphilosophie, die sich am Rande des
Marxismus („enmarge dumarxisme“183) und nicht gegen ihn entwickelt habe,
zukonsolidieren. Zuvor erscheint er ihmunvereinbarmit demeigenenDenken,
das ausgehend von Descartes die Selbstvergewisserung des Subjekts im cogito
(„la vérité absolue de la conscience s’atteignant elle-même“184) als Ausgangs-
punkt für jedeweitereWahrheit setzt. Dieses für Sartrewesentliche Fundament
(„mapenséephilosophiqueessentielle“185)hätteeraufgebenundseinerstesphi-
losophisches Hauptwerk L’Être et le Néant verleugnen müssen: Ausgehend
vonderMaterialität derWelt–Marx’PriorisierungdesObjekts vor demSubjekt
(„prioritédel’objetsur lesujet“186)–,kanndasBewusstseinnicht jeneFreiheit sein,
diebeiSartre(alspour-soi)derdinglichenWelt (desen-soi)Bedeutungverleiht.
Sartres Freiheitsauffassung verändert sich nun insofern, als er sich von der
L’Être et le Néant zugrunde gelegten „Freiheit eines klassenlosen Menschen“187
181 Cf. Hollitscher: Ist der Existentialismus humanistisch?, S. 12. Die „stur-individualistische
Grundhaltung“desExistentialismusunddie„Diktionder innerenWillensfreiheit“veranlassen
zuvor den österreichischen Kulturphilosophen Theodor Hartwig zu einer Studie mit dem
unmissverständlichen Titel Der Existentialismus. Eine politisch reaktionäre Ideologie. Wien
1948, S. 15: „Es ist utopisch zuglauben,mankönneMenschendurchVernunft allein zurVer-
nunft bringen, während rückständige soziale Verhältnisse sich notwendig hemmend auf die
EntschlußkraftebendieserMenschenauswirkenmüssen.“
182 Jean-Paul Sartre:Questionsdeméthode. In: Sartre: Critiquede la raisondialectique (pré-
cédédeQuestionsdeméthode),Bd. 1:Théoriedesensemblespratiques.Paris 1974,S. 29.
183 Sartre:Questionsdeméthode,S. 22.
184 Sartre:L’Existentialismeestunhumanisme,S.57.
185 Sartre:Sartre,S.85.
186 Sartre:L’Êtreet leNéant,S.626.
187 Sartre:VolksfrontnichtbesseralsGaullisten. In:DerSpiegel, 12.02.1973.Denvonkommunis-
tischer Seite vehement vorgebrachtenVorwurf, ermaueredas Individuum in seiner Subjektivität
ein,hältSartre fürunzutreffend.DieSubjektivität fasseernichtals strikt individuell auf,denn im
cogito„erreichenwir […] uns selbst imAngesichtdesanderen,undderandere ist fürunsebenso
gewißwiewir selbst“ („nousnous atteignonsnous-mêmes en facede l’autre, et l’autre est aussi
certainpournousquenous-mêmes“). Sartre: L’Existentialismeestunhumanisme,S. 165. (Sartre:
L’Existentialisme est un humanisme, S. 58.) Allerdings nimmt die Intersubjektivität weniger die
GestalteinesharmonischenMiteinandersalsdieeines immerwährendenKonfliktsan,derbeiSar-
tre„derursprünglicheSinndesFür-Andere-seins“ („lesensoriginelde l’être-pour-autrui“) ist.Sar-
tre:DasSeinunddasNichts,S.638. (Sartre:L’Êtreet leNéant,S.404.)
300 8 SartreundderkulturelleKalteKrieg
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur