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BIBLIOTHEK UND ÖFFENTLICHKEIT 741
Kehren wir nach diesem Exkurs zurück zu Joseph Pohl und dessen Recher-
chen zur Herausgabe der Werke von Thomas von Kempen. Aufgrund einer
Entscheidung der Generaldirektion konnte Schnürer sein Ansuchen um Ent-
lehnung von Codex FRANZ 7970 nicht bewilligen (vgl. Abschnitt 2.2.1). Da
Pohl andererseits wegen seines fortgeschrittenen Alters von 75 Jahren nicht
willens war, zum Studium der Quelle selbst nach Wien zu reisen, schlug
Schnürer zunächst vor, „einen hiesigen Gelehrten mit der in Frage kommen-
den Arbeit zu betrauen“.1173 Pohl war mit dieser Lösung zwar nicht glücklich,
verfasste aber mangels Alternative ein ausführliches Schreiben an die Wiener
Niederlassung des Herder-Verlages, in dem er um die Kollation der fünf be-
reits von Dreves publizierten Lieder, die anscheinend von Thomas von Kem-
pen stammten oder ihm zugeschrieben wurden, und um die buchstabengetreue
Abschrift von 29 weiteren, in der Handschrift enthaltenen Gesängen bat. Wie
aus dem Brief hervorgeht, hatte bereits Dreves vermutet, dass alle oder die
meisten dieser Texte aus der Feder des Mystikers stammten, und Pohl wollte
nun aufgrund seiner Expertise die Frage nach dessen Autorenschaft weiter un-
tersuchen bzw. diese belegen. Die Verlagszweigstelle in Wien sollte mit den
erwähnten Arbeiten einen ihr geeignet erscheinenden Gelehrten beauftragen,
der sie, wenn möglich, unentgeltlich ausführen oder doch nur geringe Hono-
rarforderungen stellen würde.1174 Inzwischen hatte sich die Sachlage dadurch
verkompliziert, dass bekannt wurde, dass auch der Theologe Johannes Linke,
der eine kritische Ausgabe der Lieder von Thomas von Kempen plante, auf den
Codex der Fideikommissbibliothek aufmerksam geworden war.1175 Offensicht-
lich war man in der Fideikommissbibliothek darüber besorgt, dass die Veröf-
fentlichungen von Pohl und Linke denselben Zweck verfolgen würden und dass
die gleichzeitige Erstveröffentlichung von Texten des Mystikers zu Unstimmig-
keiten zwischen den Gelehrten führen könnte. Pohl konnte diese Bedenken da-
mit zerstreuen, dass Linke „nur die Lieder des Thomas a Kempis herausgeben
[wollte], wobei er das Hauptgewicht auf die handschriftlich überlieferten Mu-
siknoten derselben legt“, während es ihm selbst um eine möglichst vollständige
textkritische Gesamtausgabe der Werke ging.1176 Außerdem waren Linke und
Pohl befreundet, standen also gewiss auch in fachlichem Austausch. Schließ-
lich machte Schnürer im Oktober 1911 Pohl den Vorschlag, die relevanten Sei-
ten der Handschrift für die textkritische Bearbeitung fotografieren zu lassen,
1173 FKBA39005, fol. 15v.
1174 FKBA39005, fol. 17r–20v.
1175 FKBA39021, fol. 1r u. 2r, Die Anfrage Linkes datiert bereits vom 01.08.1910, war aber
(laut Notiz am Aktenumschlag) erst am 11.02.1911 in die Registratur der Fideikommiss-
bibliothek gelangt.
1176 FKBA39005, fol. 21r.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Die Familien-Fideikommissbibliothek des Hauses Habsburg-Lothringen 1835–1918
Metamorphosen einer Sammlung
- Titel
- Die Familien-Fideikommissbibliothek des Hauses Habsburg-Lothringen 1835–1918
- Untertitel
- Metamorphosen einer Sammlung
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21308-6
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 1073
- Kategorien
- Geschichte Chroniken