Seite - 10 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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1. Vorlesung
Einleitung
Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, wieviel die einzelnen von Ihnen aus ihrer Lektüre oder
vom Hörensagen über die Psychoanalyse wissen. Ich bin aber durch den Wortlaut meiner
Ankündigung – Elementare Einführung in die Psychoanalyse – verpflichtet, Sie so zu behandeln,
als wüßten Sie nichts und bedürften einer ersten Unterweisung.
Soviel darf ich allerdings voraussetzen, daß Sie wissen, die Psychoanalyse sei ein Verfahren, wie
man nervös Kranke ärztlich behandelt, und da kann ich Ihnen gleich ein Beispiel dafür geben,
wie auf diesem Gebiet so manches anders, oft geradezu verkehrt, vor sich geht als sonst in der
Medizin. Wenn wir sonst einen Kranken einer ihm neuen ärztlichen Technik unterziehen, so
werden wir in der Regel die Beschwerden derselben vor ihm herabsetzen und ihm zuversichtliche
Versprechungen wegen des Erfolges der Behandlung geben. Ich meine, wir sind berechtigt dazu,
denn wir steigern durch solches Benehmen die Wahrscheinlichkeit des Erfolges. Wenn wir aber
einen Neurotiker in psychoanalytische Behandlung nehmen, so verfahren wir anders. Wir halten
ihm die Schwierigkeiten der Methode vor, ihre Zeitdauer, die Anstrengungen und die Opfer, die
sie kostet, und was den Erfolg anbelangt, so sagen wir, wir können ihn nicht sicher versprechen,
er hänge von seinem Benehmen ab, von seinem Verständnis, seiner Gefügigkeit, seiner
Ausdauer. Wir haben natürlich gute Motive für ein anscheinend so verkehrtes Benehmen, in
welche Sie vielleicht später einmal Einsicht gewinnen werden.
Seien Sie nun nicht böse, wenn ich Sie zunächst ähnlich behandle wie diese neurotischen
Kranken. Ich rate Ihnen eigentlich ab, mich ein zweites Mal anzuhören. Ich werde Ihnen in dieser
Absicht vorführen, welche Unvollkommenheiten notwendigerweise dem Unterricht in der
Psychoanalyse anhaften und welche Schwierigkeiten der Erwerbung eines eigenen Urteils
entgegenstehen. Ich werde Ihnen zeigen, wie die ganze Richtung Ihrer Vorbildung und alle Ihre
Denkgewohnheiten Sie unvermeidlich zu Gegnern der Psychoanalyse machen müßten und
wieviel Sie in sich zu überwinden hätten, um dieser instinktiven Gegnerschaft Herr zu werden.
Was Sie an Verständnis für die Psychoanalyse aus meinen Mitteilungen gewinnen werden, kann
ich Ihnen natürlich nicht vorhersagen, aber soviel kann ich Ihnen versprechen, daß Sie durch das
Anhören derselben nicht erlernt haben werden, eine psychoanalytische Untersuchung
vorzunehmen oder eine solche Behandlung durchzuführen. Sollte sich aber gar jemand unter
Ihnen finden, der sich nicht durch eine flüchtige Bekanntschaft mit der Psychoanalyse befriedigt
fühlte, sondern in eine dauernde Beziehung zu ihr treten möchte, so werde ich ihm nicht nur
abraten, sondern ihn direkt davor warnen. Wie die Dinge derzeit stehen, würde er sich durch eine
solche Berufswahl jede Möglichkeit eines Erfolges an einer Universität zerstören, und wenn er
als ausübender Arzt ins Leben geht, wird er sich in einer Gesellschaft finden, welche seine
Bestrebungen nicht versteht, ihn mißtrauisch und feindselig betrachtet und alle bösen, in ihr
lauernden Geister gegen ihn losläßt. Vielleicht können Sie gerade aus den Begleiterscheinungen
des heute in Europa wütenden Krieges eine ungefähre Schätzung ableiten, wieviele Legionen das
sein mögen.
Es gibt immerhin Personen genug, für welche etwas, was ein neues Stück Erkenntnis werden
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Titel
- Schriften von Sigmund Freud
- Untertitel
- (1856–1939)
- Autor
- Sigmund Freud
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 21.6 x 28.0 cm
- Seiten
- 2789
- Schlagwörter
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Kategorien
- Geisteswissenschaften
- Medizin